Andreas Pflüger
geb. 15. Okt. 1957 in Bad Langensalza
Er hat 27 Drehbücher für die ARD-Krimireihe „Tatort“ verfasst, mit Volker Schlöndorff an zwei Kinofilmen gearbeitet, Hörspiele und Theaterstücke geschrieben und mittlerweile (Stand 2024) sechs Romane veröffentlicht. Damit gehört Andreas Pflüger zu den produktivsten deutschen Autoren seiner Generation.
Im Alter von drei Monaten kommt Pflüger mit seinen Eltern ins saarländische Fechingen, den Heimatort seiner Mutter. (Pflüger im Gespräch im Oktober 2024: „So weit man Saarländer sein kann, bin ich das.“) Nach der Grundschule besucht er zunächst das Otto-Hahn-Gymnasium, Saarbrücken (damals noch „Staatliche Oberrealschule“) und wechselt schließlich ans Gymnasium am Rotenbühl (Pflüger: „Wir waren acht Jungen und tausendzweihundert Mädchen. Meine beste Zeit.“). 1978 macht er das Abitur und beginnt an der Uni Saarbrücken ein Studium der Evangelischen Theologie und Philosophie, das er 1979 in Berlin fortsetzt, aber nach sechs Semestern abbricht.
„Tatort“
In der Berliner Kulturszene lotet Pflüger seine kreativen Möglichkeiten aus. Ab 1982 veröffentlicht er erste Lyrik und Kurzprosa in Zeitschriften wie „Litfass“ (Untertitel: „Berliner Zeitschrift für Literatur“, 1976–1995) oder „Wildkirsch“ („Streitschrift für Musik, Meinung und Muse“.) 1987 gründet er zusammen mit Leon Boden (Schauspieler, Regisseur und Synchronsprecher) und Stefan Warmuth (Regisseur und Komponist) die Theaterproduktionsfirma „Comédie Berlin“ und schreibt für Bühne und Rundfunk. 1987 wird sein Hörspiel „In der Nacht sind alle Taxen grau“ vom Sender Freies Berlin (SFB) produziert. Aus dem Hörspiel entsteht 1989 auch ein Musical für das „Grips-Theater“. 1991 erlebt Pflügers Stück „Herrengold“ (mit Günter Lamprecht und Claudia Amm) seine Uraufführung am Berliner Renaissance-Theater.
Für den SFB schreibt Pflüger das Drehbuch zum „Tatort“ „Die Sache Baryschna“ (Regie: Matti Geschonnek) – das erste von insgesamt 27 Büchern für die ARD- Krimireihe (Erstausstrahlung 1994). Bis 1998 folgen weitere drei Bücher für den SFB-„Tatort“ (als Kommissar: Winfried Glatzeder). Ab Anfang der 2000-er Jahre schreibt Pflüger für den Mitteldeutschen Rundfunk (Darsteller-Duo Peter Sodann, Bernd Michael Lade; später Simone Thomalla, Martin Wuttke), dann auch für den Rundfunk Berlin Brandenburg (Dominic Raacke und Boris Aljinovic als Ermittler). Beide Teams hat er, genau wie den Günter-Lamprecht-Kommissar Markowitz, miterfunden. Ins Jahr 2009 fällt die Produktion des „Tatorts“ „Bittere Trauben“ für den Saarländischen Rundfunk (Regie: Hannu Solonen), die Andreas Pflüger nicht in bester Erinnerung hat („das war schon dilettantisch“).
Ganz anders seine Erfahrung beim MDR, wo Pflüger, der sich längst einen Namen gemacht hat („in den ersten Jahren habe ich Lehrgeld bezahlt … am Ende war ich im Drehbuch-Olymp“) und sein Co-Autor Claus-Henrik (genannt „Murmel“) Clausen „absolute Narrenfreiheit“ genießen. Die beiden entwickeln den „Weimar-Tatort“ (mit Nora Tschirner und Christian Ulmen in den Hauptrollen). „Das war unser Ding“, sagt Pflüger; „wir haben die Figuren erfunden, wir haben sämtliche Geschichten erfunden, den ganzen Weimarer Kosmos.“ Zwischen 2013 und 2019 wächst die Reihe auf sieben Folgen an.
Schon während seiner „Tatort-Jahre“ wechselt Pflüger immer wieder in andere Genres („es wäre mir viel zu langweilig, immer nur auf einer ganz bestimmten Schiene zu reiten“). Für ARD und ZDF schreibt er Komödien, für RTL zwei Folgen der Serie „S.O.S. Barracuda“ (2000/2001) mit Naddel und Verona Feldbusch.
Sein Lebensthema
Der Pragmatiker Pflüger weiß sehr wohl zu unterscheiden zwischen Projekten, mit denen er „schnell Geld verdienen“ kann und muss, und solchen, die ihm „am Herzen liegen.“ Die Zeit des Nationalsozialismus und der Shoah werden für ihn zum „Lebensthema.“ Schon 1994 inszeniert er (zusammen mit Pim Richter) den 70-minütigen Dokumentarfilm „Fünf Jahre – Ein Leben“ (aka „Jugend in Auschwitz“), eine Produktion von SFB und WDR (Erstsendung 26.01.1995). Sie portraitiert zwei Menschen, die den Terror von Auschwitz überlebten: einen politischen Häftling (Thadeusz Szymanski), der als Schreiber im Aufnahmekommando des Konzentrationslagers gearbeitet hat und später am Aufbau der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mitwirkt, und eine jüdische Pianistin (Renata Sussmann), die der Gaskammer nur entkommen ist, weil das Frauenorchester des Lagers Musikerinnen brauchte.
1996 widmet das Duo Pflüger/Richter dem Themenkomplex Schuld, Verantwortung, Drittes Reich einen weiteren Dokumentarfilm: „Mein großer Bruder“ (aka „Mein Bruder ein Täter“). Beide Filme werden von der Bundeszentrale für politische Bildung für den Geschichtsunterricht an der gymnasialen Oberstufe übernommen. Die Geschichte eines Luxemburger Paters, der fast zwei Jahre im KZ Dachau interniert war, liegt dem Drehbuch zugrunde, das Andreas Pflüger 2003/04 für die Spielfilmproduktion „Der neunte Tag“ (BR/ arte; Erstsendung 6.4.2007) schreibt. Regie führt Volker Schlöndorff. Es ist die erste Zusammenarbeit des Autors mit dem Oscar-Preisträger. Schon 2005 soll die zweite folgen. Schlöndorff verfilmt Pflügers Buch „Strajk – Die Heldin von Danzig“, ein Drama über die Geschichte der polnischen Arbeiterbewegung Solidarnosc (BR/arte, Erstsendung 26.9.2008). Bei den Dreharbeiten muss Pflüger erleben, dass der Regisseur „die Arbeitsleistung anderer Menschen nicht so anerkennt, wie es sein sollte.“ Eine weitere Zusammenarbeit lehnt Pflüger deshalb ab.
Nur noch Romane
Seit Anfang der 2000-er Jahre schreibt Andreas Pflüger nicht nur Drehbücher, sondern auch Romane. „Drehbücher besitzen nur eingeschränkt literarische Qualität. In erster Linie enthalten sie nüchterne, klare Anweisungen für Schauspieler, Kamera, Regie usw.“ Als zweiten, wichtigen Unterschied zum Roman nennt Pflüger den finanziellen Aspekt: „In einem Drehbuch kostet alles Geld, viel Geld oder noch mehr Geld. In einem Roman kostet alles gleich viel.“ Der Romanautor hat quasi ein grenzenloses Budget. Während der Drehbuchautor „immer auch für den Etat verantwortlich“ ist – ein Film muss finanzierbar bleiben – , muss das den Romanautor nicht eine Sekunde beschäftigen. „Das war einer der Gründe, warum ich mich (2018) entschlossen habe, nur noch Romane zu schreiben.“
Pflügers Roman-Debüt, „Operation Rubikon“, soll eigentlich schon 2001 erscheinen, doch der Verlag meldet Insolvenz an, das Manuskript liegt als Teil der Insolvenzmasse auf Eis. 2004 erscheint das Buch schließlich im Münchner Verlag F.A. Herbig – und findet kaum Beachtung. Erst die Neuauflage 2020 im Suhrkamp Verlag macht den Thriller um Korruption, Mord und illegale Waffen- und Drogengeschäfte zum Bestseller.
Pflüger ist zu der Zeit bereits ein renommierter „Suhrkamp-Autor“. Zwischen 2016 und 2019 ist ebenda seine Jenny-Aaron-Trilogie erschienen. Wieder siedelt der Autor die Handlung im Milieu von BKA/BND an, die das organisierte Verbrechen bekämpfen. Und wieder ist die Hauptfigur eine Frau. Pflüger wagt etwas beinahe Unglaubliches; seine Heldin Jenny Aaron ist eine blinde Karate-Meisterin. Das mag an Comic-Figuren denken lassen oder an einen weiblichen James Bond. Die Kritiker sind anderer Meinung. „Pflüger schreibt in seiner eigenen Liga, gewalttätig, wortgewaltig – und da ist eine ganz große Zartheit. Einsame Spitze, suchterzeugend.“ (Rose-Maria Gropp, Frankfurter Allgemeine Zeitung). „Für einen Thriller fast schon provokant literarisch.“ (Nicolas Freund, Süddeutsche Zeitung).
Was Pflügers Romane (neben der klaren, rhythmischen Sprache) besonders auszeichnet, ist die minutiöse Recherche. Um das hermetische Milieu der sog. Dienste authentisch darstellen zu können, lässt der Autor sich beispielsweise vom ehemaligen Chef des Bundeskriminalamtes, Hans-Ludwig Zachert und BND-Mann Bodo Hechelhammer beraten.
2021 kehrt der Autor mit „Ritchie Girl“ zum Themenkomplex „deutsche Schuld und Shoah“ zurück. Angesiedelt im Nachkriegsdeutschland zur Zeit des Kalten Kriegs, geht es um das Fortwirken alter Seilschaften und das Knüpfen neuer, unmoralischer Bande. Der zynische Pragmatismus der Militärs ruft eine junge Deutsch-Amerikanerin auf den Plan, die in Camp Ritchie, Maryland, zur Agentin ausgebildet wurde.
2023 erscheint der Spionage-Thriller „Wie Sterben geht“. Schauplätze: Moskau (das Pflüger 1993 besucht hat) und das geteilte Berlin. Zeit: Ende der 1970-er/Anfang `80-er Jahre. Hauptfigur: die BND-Agentin Nina Winter. „Als Nina Winter sich in meine Träume zu schummeln begann“, schreibt Pflüger im Nachwort, „lag der russische Überfall auf die Ukraine noch in weiter Ferne. Beim Schreiben habe ich mir gewünscht, es gäbe weniger Analogien zwischen dem heutigen Russland und der damaligen Sowjetunion.“ Und über Putin heißt es: „Es wirkt nur auf den ersten Blick bizarr, dass er sich als Erben der Romanows sowie der sowjetischen Herrscher sieht. Das ist er tatsächlich. So verblendet, grausam, gottlos und lächerlich.“
Herzschlagkino
Literatur und Film sind in Pflügers Schaffen oft miteinander verbunden. Als er erkrankt und an seinem nächsten Roman nicht weiterarbeiten kann, schreibt er kurze Texte über die Filme seines Lebens. „Eine Filmakademie habe ich nie von innen gesehen. Das Kino war meine Schule, besonders das amerikanische.“ In dem Band „Herzschlagkino“ (2023) hält Pflüger seine Erinnerungen und seine persönliche Sicht auf 77 Filme fest. Die Sammlung ist „eine Autobiografie anhand meiner Lieblingsfilme“. Das heißt: über den Menschen Andreas Pflüger, über sein Schreiben und seine Filme erfährt der Leser ebenso viel wie über das Hollywood-Kino.
pmk
Andere Autoren mit Saarland-Bezug, die für den ARD-„Tatort“ geschrieben haben: Wolfgang Brenner, Martin Conrath, Bernd Nixdorf, Erhard Schmied, Wolfgang Stauch. Redaktionell für den SR-„Tatort“ zuständig waren Martin Buchhorn und seine Nachfolgerin Inge Plettenberg. Als Darsteller mitgewirkt hat Friedrich-Karl Praetorius.