Hinrich Schmidt-Henkel

geb. 15. Nov. 1959 in Berlin

Foto: Ebba D. Drolshagen

Foto: Ebba D. Drolshagen

Eigentlich, meint Schmidt-Henkel, müsse der literarische Übersetzer „wissen, wie es in den Häusern riecht.“ Der Umgang mit Wörterbüchern allein genüge nicht, der Übersetzer müsse die Länder, die Menschen und ihre Kultur aus eigener Anschauung kennen, um ihre Literatur ins Deutsche übertragen zu können. Er selbst weiß erstaunlich genau, wie es in französischen, italienischen und norwegischen Häusern „riecht“.

Mit gerade zwölf Jahren wird Hinrich Schmidt-Henkel aus der urbanen Insel (West-)Berlin ins beschauliche Saarland verpflanzt. Sein Vater, der Germanist Gerhard Schmidt-Henkel (1925–2011), bekommt im November 1971 einen Ruf an die Uni Saarbrücken, wo er eine Professur für Neuere Deutsche Philologie und Literaturwissenschaft antritt. Bliesransbach, Sankt Ingbert und Saarbrücken sind in den folgenden Jahren Stationen für die Familie, Hinrich Schmidt-Henkel besucht zunächst das Ludwigsgymnasium in Saarbrücken, und wechselt dann auf das Knabenrealgymnasium Sankt Ingbert, wo er 1978 Abitur macht.

An der Saar-Uni beginnt er anschließend ein Pädagogikstudium, geht nach zwei Semestern für ein Jahr in die Schweiz, kommt nach Saarbrücken zurück und studiert Germanistik und Romanistik für das Lehramt an Höheren Schulen; 1986 macht er das erste, 1988 das zweite Staatsexamen. 1989 geht er nach Hamburg, 1996 kehrt er nach Berlin zurück, wo er seitdem lebt und arbeitet. Die knapp zwei Jahrzehnte im Saarland erinnert er als „gute Zeit“: eine intellektuell stimulierende Universität, die Nähe zu Frankreich, eine lebendige Kulturszene („damals wurde in Saarbrücken gerade die Alte Feuerwache eröffnet“).

Anregung durch Eugen Helmlé

Durch seinen Vater lernt Hinrich Schmidt-Henkel auch den Übersetzer und Autor Eugen Helmlé kennen. Gerhard Schmidt-Henkel ist mehrfach Mitglied der Jury für die Verleihung des Saarländischen Kunstpreises und stimmt dafür, dass der Preis 1972 Helmlé zuerkannt wird – und drückt damit aus, „dass Literaturübersetzung kunstpreiswürdig ist“ (H. S-H). Helmlé spielt in den folgenden Jahren die Rolle des Ratgebers und Förderers („ich verdanke ihm sehr viel“ –  H. S-H) und beeinflusst Schmidt-Henkels weiteren Studien- und Berufsweg.

1989 erscheint eine erste Übersetzung Schmidt-Henkels in dem von Helmlé herausgegebenen Band „Résonances. Französische Lyrik seit 1960“ (P. Kirchheim Verlag, München; beteiligt sind auch Felicitas Frischmuth, Simon Werle und Ludwig Harig).

Ganz gleich, ob Schmidt-Henkel in der Folge Lyrik übersetzt, Romane, Kinderbücher oder Dramen, es geht ihm immer um die Möglichkeiten, die Besonderheiten und (regionalen oder sozialen) Unterschiede, das Funktionieren oder eben Nicht-Funktionieren von gesprochener oder Schrift-Sprache und um das Auffinden oder Erfinden möglicher Entsprechungen in der Sprache, in die übersetzt wird. Mit den spezifischen Mitteln der Zielsprache zu arbeiten, bedeutet für ihn …“dass ich den literarischen Text der Ausgangssprache in einen literarischen Text der neuen Sprache bringe, der keine Abschrift ist oder eine Kopie. Kopie nur in der Weise, dass es ein ebenso konziser, autonomer Text ist wie in der Ausgangssprache… Ich bin ein literarischer Komplize des Autors. Im Idealfall will ich dasselbe wie er. Literaturübersetzen ist ja sowieso, wenn es gelingt, Schreiben wie der Autor, mit den Mitteln, die er wählt, mit der Wirkung, die es hat und so weiter, aber eben mit den Mitteln der neuen Sprache“ (Gespräch mit Sascha Seiler, Oktober 2019). Die im Idealfall enge Beziehung zwischen Autor und Übersetzer fasst Schmidt-Henkel in den Satz: „Ich persönlich begreife mich als Übersetzer von Autoren, nicht als Übersetzer von Büchern“ (Gespräch mit dem Verfasser vom April 2021).

Stilübungen

Ein großer Sprachkünstler und eine Herausforderung für literarische Übersetzer ist der Franzose Raymond Queneau (1903–1976). 1947 erzählt der in seinen „Exercices de style“ eine kleine, banale Geschichte von einer Rempelei in einem Pariser Omnibus – in 99 Variationen! 1961 wagen sich Ludwig Harig und Eugen Helmlé an eine Übertragung der „Stilübungen“ (Suhrkamp), die große Anerkennung findet. 2015 bringt der Saarbrücker Albrecht Buschmann (Übersetzer und seit 2010 Professor für Romanistik an der Uni Rostock) eine neue, erweiterte Ausgabe des Queneau-Texts aus Paris mit. Sie fasziniert Hinrich Schmidt-Henkel und seinen Kollegen und Lebensgefährten Frank Heibert.  2016 erscheint (ebenfalls bei Suhrkamp) ihre Neuübertragung. Zwölf weitere und zwölf erstmals veröffentlichte Stilübungen Queneaus sind dazu gekommen, außerdem eine Liste von 122 weiteren Möglichkeiten (die schon seit 1963 in einigen französischen Ausgaben veröffentlicht wird), und auch die ursprünglichen 99 Texte lesen sich nun ganz anders.

War eine Neuübersetzung wirklich notwendig? „Literatur entwickelt sich fort“, sagt Hinrich Schmidt-Henkel. Als Harig und Helmlé sich mit Queneau befassten, gab es noch „kaum Vorbilder im Bereich sprachspielerischer Literatur.“ In den folgenden sechs Jahrzehnten entwickelt sich ein neuer Umgang mit experimentellen Literaturformen, und die Frage rückt stärker ins Bewusstsein: „Wer spricht, und aus welcher Haltung heraus?“ Die Übertragung Schmidt-Henkels und Heiberts zeichnet sich durch eine „psychologisch glaubwürdigere Sprechhaltung“ (H. S-H) aus. Für ihre Leistung werden sie 2017 mit dem Straelener Übersetzerpreis des Landes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet. Die Jury bescheinigt den beiden: „Sie spielen so präzise wie übermütig mit den Formen des Sprechens und Erzählens und feiern damit den großen Reichtum unserer Sprache. Mit ihrer Begeisterung regen sie die Leser dazu an, die Welt immer wieder neu in Sprache zu gestalten.“

Schmidt-Henkels Affinität zum Französischen ist unübersehbar. Von Denis Diderot oder Albert Camus über Michel Houellebecq bis hin zu Yasmina Reza (deren Romane und Dramen übersetzt er schon seit 20 Jahren zusammen mit Frank Heibert) oder Tanguy Viel reicht das Spektrum seiner Übertragungen, also vom Drama über den philosophischen Roman bis zum Thriller. Auf der langen Liste „seiner“ Autoren fällt ein weiterer Name besonders ins Auge: Louis-Ferdinand Céline (1894-1961).

Célines zwischen schonungslosem Realismus und Satire, Drastik und Poetik, zynischer Härte und grimmigem Schwung schwankender Stil, sein „zu extremen Wortkaskaden aufgestachelter Bosheitsnaturalismus“ (Fritz J. Raddatz) macht es seinen Übersetzern nicht leicht. Die erste deutsche Übertragung seines Romans „Reise ans Ende der Nacht“ von Isak Grünberg 1933 ist lückenhaft und wird der Originalsprache nicht gerecht. Ähnlich ergeht es dem zweiten Werk, „Tod auf Kredit“. Hinrich Schmidt-Henkel hat nun auch dieses Buch unter dem Titel „Tod auf Raten“ (Rowohlt, 2021) neu übersetzt, um die Auslassungen früherer Versionen ergänzt und ein editorisches Nachwort verfasst. Wie schon bei der Arbeit an Raymond Queneaus „Stilübungen“ geht seine Leistung weit über die des (Auftrags-)Übersetzers hinaus.

Anerkennung

Für seine zahlreichen Übertragungen aus dem Französischen erfährt Hinrich Schmidt-Henkel viel Anerkennung, unter anderem in Form von Preisen und Auszeichnungen. 2014 wird er zum Chevalier de l´Ordre des Arts et des Lettres durch die französische Kulturministerin ernannt. In seiner Vita findet sich ferner der Hinweis, dass ihm 2018 auch der Königlich Norwegische Verdienstorden, Ritter Erster Klasse, überreicht wurde – für seine Übersetzungen norwegischer Autoren und für sein Engagement als Kulturvermittler. Französisch und Italienisch hat er studiert; Norwegisch hat er sich „ganz organisch“ selbst erschlossen. „Ich habe als Kind angefangen, Dänisch aufzuschnappen, habe an der Uni Schwedisch gelernt und dann alles auf Norwegisch umgebastelt, als ich lange Zeit einen norwegischen Partner hatte und dann auch viel in Norwegen war“ (Gespräch mit Sascha Seiler).

Norwegische Literatur ist vielleicht kein ausgesprochenes Nischenprodukt mehr in deutschen Buchläden; es gibt ein Institut zur Förderung norwegischer Literatur im Ausland (NORLA), und der seit Jahren ungebrochene Krimi-Boom hat das Land mit seinen knapp fünfeinhalb Millionen Menschen „sichtbar“ gemacht. Aber über Karin Fossum, Anne Holt oder Jo Nesbo hinaus bleiben die meisten norwegische Autoren anonyme Wesen. Selbst dass Jo Nesbo neben düsteren Krimis auch Kinderbücher schreibt – übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel – ist kaum bekannt.

Norwegens historisch enge Verbindungen zu Dänemark und Schweden haben deutliche Spuren auch in der Sprache und damit in der Literatur hinterlassen. Es existieren zwei Schriftsprachen und über vierzig gesprochene Dialekte, was Schmidt-Henkel auf den Nenner bringt: „Es gibt 47 Sprachen, die man nicht lernen kann. 46 davon sind Norwegisch.“ Zwar hält er Norwegisch (Nynorsk) für „grammatikalisch weniger komplex als das Deutsche“, gleichzeitig betont er den „unglaublichen Reichtum“, den die Vielzahl regionaler Varianten mit sich bringt.

Seit 2001 überträgt Schmidt-Henkel Prosa und Stücke von Jon Fosse (geb. 1959 in Haugesund), Erlend Loe (geb. 1969 in Trondheim), Tomas Espedal (geb. 1961 in Bergen) oder Lars Mytting (geb. 1968 in Ringebu), aber auch „Klassiker“ wie Kjell Askildsen oder Henrik Ibsen. „Für mich sind die Norweger sehr stark in ihrem Land und auch in der Natur verwurzelt, die zwangsläufig eben einfach da ist. Die bestimmt den Alltag. Wenn es keine Brücke über den Fjord gibt, muss man drumrum fahren … Die lokale, regionale und nationale Verwurzelung ist stark, aber ich sehe auch einen Blick, der weit darüber hinausgeht, …zum Beispiel Vesaas [Tarjei Vesaas, 1897–1970, mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert – Anm. pmk] der in seinen Lehr- und Wanderjahren viel gereist ist in Europa, dann aber in einer Provinz gelebt hat, und dort in seinem kleinen Ort hat er Weltliteratur geschrieben.“

Der Autor – gleich ob Norweger, Franzose oder Italiener – und sein „Komplize“, der literarische Übersetzer, sind immer auch Botschafter der jeweiligen Kultur(en). Um fremde Kulturen besser zu verstehen und uns / einander näher zu bringen, nutzt Hinrich Schmidt-Henkel seit Jahren auch das Medium Fernsehen. Für das Magazin „Karambolage“ des deutsch-französischen Kulturkanals Arte hat er schon mehr als 80-mal etymologische und kulturelle Zusammenhänge, Kuriositäten oder Unterschiede der deutschen und französischen Alltagskultur vorgestellt und erklärt.
(pmk)