Philip Kerr

geb. 22. Feb. 1956 in Edinburgh, gest. 23. März 2018 in London.

Er ist Schotte und steht als Meister des Kriminalromans in einer Reihe mit seinen Landsleuten Ian Rankin oder Val McDermid. Er ist außerdem – wie die Engländer Jack Higgins („Der Adler ist gelandet“) und Robert Harris („Vaterland“) – fasziniert von Deutschlands Nazi-Vergangenheit. Bravourös verbindet Kerr in seinen Büchern historische Fakten und Fiktion. Und die Handlung seines Romans „Berliner Blau“ lässt er zu großen Teilen im Saarland der 1930er und 1950er Jahre spielen.

Philip Ballantyne Kerr wächst in der schottischen Hauptstadt Edinburgh auf. Sein Vater William Kerr ist Ingenieur, die Mutter Ann arbeitet als Sekretärin. Philip besucht das Stewart’s Melville College in Edinburgh und anschließend die Northamptonshire Grammar School, nördlich von London. Von 1974 bis 1980 studiert er an der Universität von Birmingham Recht und Rechtsphilosophie (Magister-Abschluss). Danach arbeitet er als Texter in der Londoner Niederlassung der aufstrebenden Werbeagentur Saatchi & Saatchi, wo Kerr zufolge „jeder nebenbei an einem Roman schrieb“.

1989 erscheint sein erster Roman „March Violets“ („Feuer in Berlin“), der in den 1930er Jahren in Berlin angesiedelt ist und dessen (Anti-)Held Bernhard Gunther an Raymond Chandlers zynischen Detektiv Philip Marlowe erinnert. Es wird kolportiert, dass Kerr die Idee dazu kam, als er sich überlegte, was Raymond Chandler wohl geschrieben hätte, wenn er nicht in Los Angeles, sondern in Berlin gelebt hätte. Auf „Feuer in Berlin“ folgen zwei weitere Bernhard Gunther-Romane, die zusammen als Berlin-Trilogie bezeichnet werden.

Nach diesen drei Büchern stoppt Kerr 1991 die Reihe. Er heiratet die englische Journalistin und Schriftstellerin Jane Thynne. Drei gemeinsame Kinder (William, Charlie, Naomi) inspirieren ihn, Kinder- und Jugendbücher zu schreiben. Seine siebenteilige Fantasy-Reihe „Children of the Lamp“ („Die Kinder des Dschinn“) wird zum internationalen Erfolg. Daneben schreibt er, ebenfalls sehr erfolgreich, Wissenschaftskrimis.

Noch immer fasziniert von der deutschen Geschichte der NS-Zeit, nimmt Kerr 2006 die Arbeit an weiteren Berlin-Noir-Romanen um Bernhard „Bernie“ Gunther wieder auf. So entstehen bis 2018 noch einmal elf Romane, die seinen Protagonisten von den 1920er bis in die 1950er Jahre begleiten. Insgesamt verfasst Philip Kerr vierzig Bücher, für die er zahlreiche Auszeichnungen erhält. Im März 2018 stirbt er, 62-jährig, an einem Krebsleiden.

Den größten Erfolg auch international erzielt Kerr mit den minutiös recherchierten Romanen der Bernie Gunther-Reihe. Der „Spiegel“ urteilt: „das Wissen, das er über Deutschland in den Jahren vor, während und nach dem NS-Regime besitzt, … ist profund. Vor allem aber besteht dieses Wissen nicht nur aus angelesenen Fakten, sondern aus einer tiefen Einsicht, was diese Fakten bedeuten oder bedeuten könnten. Er beschreibt diese Zeit nicht, er macht sie erlebbar.“ (Marcus Müntefering, 04.10. 2012). Und mit Blick auf die seit 2008 erscheinende Gereon Rath-Reihe des deutschen Autors Volker Kutscher (verfilmt als „Babylon Berlin“) heißt es im „Tagesspiegel“: „Kerr ebnete den Weg für Volker Kutschers Berlin-Krimis.“ (Christian Schröder, 24.03.2018)

„Berliner Blau“ und das Saarland

Der zwölfte der insgesamt vierzehn Bernhard Gunther-Romane führt an die französische Riviera im Oktober des Jahres 1956 und, in einem zweiten, in Rückblenden parallel entwickelten Handlungsstrang, nach Berchtesgaden im April 1939. Dabei nimmt in diesem 630 Seiten starken Roman (dt. Ausgabe bei Wunderlich / Rowohlt, 2019, übertragen von Axel Merz) die Geschichte aus den Tagen unmittelbar vor Hitlers 50. Geburtstag deutlich mehr Raum ein, als die Rahmenhandlung.

1956 wird Bernie Gunther in Nizza von Stasi-Chef Erich Mielke und seinen Mannen aufgespürt und dazu erpresst, einen Mordauftrag anzunehmen. Es gelingt Gunther zu fliehen; er will sich nach Norden durchschlagen und über das Saarland nach Deutschland entkommen. Unter den Stasi-Schergen, die ihn quer durch Frankreich verfolgen, ist sein ehemaliger Berliner Kollege Friedrich Korsch.

1939 zwingt der SS-Funktionär und damalige Polizeichef Reinhard Heydrich den Berliner Kriminalkommissar Gunther, einen Mordfall zu untersuchen, der sich auf der Terrasse von Hitlers Privathaus am Obersalzberg, dem Berghof, ereignet hat. Unterstützt wird er dabei von eben jenem Friedrich Korsch. Die Figur „Korsch“ ist das Bindeglied zwischen den beiden Erzählsträngen; ebenso die Tatsache, dass Gunther auf seiner Flucht 1956 Orte ansteuert, die er und Korsch 1939 bereits kennengelernt haben: Saarbrücken und Homburg.

Beide Erzählungen folgen einer strengen zeitlichen und räumlichen „Chronologie“. Die Fluchtroute, die an der Riviera ihren Ausgang nimmt, führt den Protagonisten über Nancy und Puttelange-aux-Lacs, Bérig-Vitrange und Petit Elbersviller (gemeint ist Ebersviller) nach Freyming-Merlebach und von dort hinüber nach Karlsbrunn im Warndt, nach Saabrücken und – mit Unterstützung eines saarländischen Motorradpolizisten (!) – schließlich nach Homburg. Dass er Freyming-Merlebach als „elsässische Grenzstadt“ bezeichnet, mag man ihm nachsehen; nicht nur britische Autoren finden den Grenzverlauf zwischen Elsass und Lothringen gelegentlich verwirrend. Dagegen zeichnet er das Lokalkolorit durchaus plausibel; Bernie Gunther sieht in Freyming Reklame für Bier der Neunkircher Schloss-Brauerei und für Zigaretten der Marken „Sultan“ und „Lasso“ aus Saarlouis. Es ist der Herbst des Jahres 1956, die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Saar und den angrenzenden französischen Regionen sind und bleiben zumindest bis Mitte 1959 eng.

Foto: J. Thynne

Foto: J. Thynne

Philip Kerr legt größten Wert auf das korrekte Detail, auf Authentizität. Eine Zigarette ist nicht bloß eine Zigarette, sondern eine „Sultan“; ein Messer ist „ein Böker-Messer“ (eine Solinger Marke seit 1869), Stiefel stammen von „Hanwag“ (München, seit 1921). Als er für „Berliner Blau“ recherchiert, kommt er im Oktober 2015 zusammen mit seiner Frau Jane Thynne nach Berchtesgaden, um die Schauplätze seiner Story in Augenschein zu nehmen. Jane Thynne bestätigt (Mail-Verkehr mit dem Autor vom Februar 2022), dass Kerr seine location scouting tour anschließend im Saarland fortsetzte. (Unser Foto zeigt Kerr und seine Frau während der Recherche zu „Berliner Blau“ im Oktober 2015.)

Waren seine Äußerungen über Lothringen schon wenig schmeichelhaft – Kerr lässt Bernie Gunther über „diese dumpfe, konturlose Region von Frankreich“ (S. 293) lästern – so fällt sein Urteil über das Saarland nicht freundlicher aus. Gunther findet es „entsetzlich“ und „seltsam“ und fasst seine Eindrücke in dem Satz zusammen: „Mit ihrer deutschen Schlichtheit und ihren französischen Ansprüchen glich das Saarland einem schaurigen Transvestiten…“ (S. 516)

Die Landeshauptstadt, die er bereits in der Nazi-Zeit kennengelernt hat, findet Gunther kaum verändert, „unansehnlich“, was er zum Teil auch der französischen Verwaltung anlastet. „Sämtliche Neubauten waren funktional, um nicht zu sagen brutal…“ Den Landwehrplatz, den er als „Hauptplatz von Saarbrücken“ bezeichnet, vergleicht er wiederum mit einem „deutschen Gefängnishof… Alles war so grau und solide germanisch wie die Mine in einem Bleistift von Faber-Castell.“ (S. 516)

Ist eine Steigerung angesichts dieses harschen Urteils noch möglich? Ja. Homburg findet Gunther noch weniger attraktiv als Saarbrücken, „was viel heißen wollte.“ (S. 545). „Gegen Homburg erschien Saarbrücken wie Paris.“ (S. 556). 1939 hatte Bernie Gunther den von ihm gejagten Mörder in den Schlossberghöhlen gestellt. Siebzehn Jahre später sucht er selbst Zuflucht in den Sandsteinstollen bei der Karlsberg-Brauerei. Es kommt (ein zweites Mal) zum Showdown.

Kerrs Schilderungen der Schauplätze mögen gelinde gesagt unvorteilhaft sein, sie verraten aber akribische Recherche und genaue Kenntnis, die nur durch eigene Anschauung zu erwerben ist. Diese Sicht überträgt der Autor auf seinen Protagonisten. Beide Handlungsstränge werden ja von dem Ich-Erzähler Bernhard Gunther vorangetrieben. Und der ist, wie eingangs schon gesagt, konzipiert als Zyniker und Lästermaul, ein „Sozialdemokrat und Sozialdarwinist“, der von sich selbst sagt, dass er „nicht besonders sozial“ ist.

Gunther fühlt sich vor allem der Wahrheit verpflichtet. Als Heydrichs Handlanger wider Willen, kommt er zu dem Schluss: „Wenn Niedertracht und Bosheit an der Macht sind, wird Wahrheit zum wertvollsten Gut von allen.“ (S. 474) „Wie John le Carré – Kerrs großes Vorbild – seinen George Smiley, so brauchte Kerr Bernie Gunther auch dazu, eine Reihe moralischer Fragen zu stellen: Wo beginnt Schuld? Macht man sich bereits schuldig, wenn man keinen Widerstand gegen ein offensichtliches Unrechtsregime leistet? Wie lebt man mit der – realen oder empfundenen – Schuld? Und: Kann man auf Vergebung hoffen?“ („Der Spiegel“ vom 04.10.2012).

Dem Bernie Gunther des Jahres 1939 gelingt es, das Konstrukt aus Lügen, Vertuschung und Korruption zu demontieren, auf dem die Nazi-Führung ihre Macht aufbaut. Die Einblicke, die „Berliner Blau“ in diese dunkle, keineswegs so ferne Epoche deutscher Geschichte bietet, heben diesen spannenden Roman weit über das Genre des Krimis hinaus. Marcus Müntefering: „Wer die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wirklich verstehen will, muss Philip Kerrs Bernie-Gunther-Romane lesen.“ pmk