Pierre Séguy

geb. 5. Nov. 1921 in Wien als Otto Robert Steinschneider, gest. 20. Dez. 2004 in Saarbrücken.

Das abenteuerliche, um nicht zu sagen, schillernde, Leben des Rundfunkpioniers, Journalisten, Chanson-Experten und Philatelisten war in der saarländischen Öffentlichkeit lange unbekannt. Viele hielten ihn, da er wie ein Muttersprachler Französisch sprach und auch im Deutschen einen gewissen Akzent hatte, für einen Franzosen. Unverbesserliche sahen ihn als Handlanger einer französischen „pénetration culturelle“ im Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg und nahmen ihm zeitlebens übel, dass er als französischer Besatzungsoffizier in Saarland gekommen war.

Die Steinschneiders waren eine jüdische Familie in Wien. Nach der Besetzung und dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 flüchteten die Eltern mit den beiden Zwillingssöhnen Otto und Herbert nach Grenoble in Frankreich. In Wien mussten die Juden nach dem „Anschluss“ die Bürgersteige mit Bürsten schrubben – die Nazis nannten das „Reibepartien“. Später deportierten sie die jüdische Bevölkerung in die Ghettos und Vernichtungslager im Osten.

Nachdem auch Frankreich von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde, lebten die Steinschneider-Jungen mit falschen Papieren als Franzosen. Um der Deportation als Zwangsarbeiter nach Deutschland zu entgehen, schlossen sie sich der Résistance an und legten sich verschiedene noms de guerre, Kampfnamen zu, die sie abwechselnd benutzten. „Pierre Séguy“ nannte sich auch Ottos Zwillingsbruder Herbert Steinschneider; er nahm nach der Befreiung seinen Geburtsnamen wieder an.

Otto Steinschneider alias Pierre Séguy kehrte als Stabsoffizier der Streitkräfte des Freien Frankreich zunächst nach Österreich zurück, wo er die Leitung des Radiosenders Dornbirn am Bodensee übernahm. 1946 wurde er als Offizier der französischen Besatzungsstreitkräfte ins Saarland versetzt. Bei Radio Saarbrücken, vormals NS-„Reichssender Saarbrücken“, war er 1947 bis 1952 Programmdirektor und Sendeleiter. Danach prägte er als Freier Mitarbeiter das Radio-Programm des Saarländischen Rundfunks lange Jahre mit seinen Sendungen über Briefmarken (u.a. „Philatelistische Neuigkeiten“) und vor allem das französische Chanson („Chanson de Paris“; „C’est ca qu’on chante en France“). Er spielte die Chansons im Sender nicht einfach ab – er etablierte sie als eigenständige Kunstform und als französisches Kulturgut in einer Zeit, als die traditionelle deutsch-französische „Erbfeindschaft“ erst noch aus den Köpfen der Menschen geräumt werden musste. Heute sind sie Klassiker.

Zeitweise lebte Pierre Seguy mit seiner Frau und Kollegin Irmengard Peller-Séguy in Saarwellingen im Kreis Saarlouis. 1995 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, 1999 wurde er zum Ritter der französischen Ehrenlegion geschlagen, und 2002 machte die Stadt Innsbruck ihn zu ihrem Ehrenbürger. Seine riesige Schallplattensammlung übernahmen nicht der SR und auch nicht die Universität des Saarlandes, sondern das Archiv für Textmusikforschung in Innsbruck. (IP)