Raimund Fellinger
geb. 1. Okt. 1951 in Dillingen, gest. 25. April 2020 in Frankfurt am Main
Ein Saarländer, der zu einem der wichtigsten Akteure des deutschen Literaturbetriebs wurde und dem es gelang, der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Profil und internationales Ansehen zu verschaffen.
Frankfurt ist für viele Saarländer – denen es in der Heimat zu eng ist – die nicht nur am nächsten gelegene Großstadt, sie ist auch die Stadt, die aufgrund der dort herrschenden Freizügigkeit und Internationalität der saarländischen Mentalität am nächsten kommt. So ist es kein Wunder, dass es den jungen Fellinger nach seinem Abitur am Aufbaugymnasium in Saarlouis aus der Enge der sozialen Verhältnisse in die Weite der geistigen Sphären einer Goethe-Universität und in die Hände einer sich im Aufbruch und in Rebellion befindlichen Stadt verschlägt. Vor allem Banken und Börse, aber auch Adorno und Habermas, die Clique um das Institut für Sozialforschung und auf der Straße die Hausbesetzerszene um Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit geben zu jener Zeit hier den Ton an. Ja, es ist keine friedliche Zeit, alles im Umbruch und in kreativer Unordnung, als er sein Studium der Germanistik und Politikwissenschaft in Bockenheim beginnt.
Im Elternhaus nur 3 Bücher
Raimund Fellinger erblickt am 1. Oktober 1951 in Dillingen als Sohn eines Postbeamten das Licht der Welt. Die Mutter Hausfrau, die Familie eher bäuerlicher Herkunft. Im Elternhaus nicht mehr als drei Bücher. Erst spät – ab der 7. Klasse – wechselt er, eher widerwillig, von der Volksschule Dillingen in die erste Klasse des im April 1965 neu gegründeten Aufbaugymnasiums in Saarlouis (heute Max-Planck-Gymnasium). Obwohl immer ein guter Schüler, gilt sein Interesse dem Sport, und hier v.a. dem Fußball (Aktiver des VfB Dillingen) und der Leichtathletik.
Erst später – begünstigt und gefördert durch seinen Deutschlehrer Gerhard Tänzer – gelangt er zum Buch. Mit der gleichen Intensität, die bisher dem Sport gilt, wendet er sich dem Lesen zu. Mit bis zu acht Büchern die Woche befriedigt er seine Wissbegierde. Seine beiden ersten Bücher sind „Ulysses“ von James Joyce und ein Buch von Karl May – „und zwar in dieser Reihenfolge“, wie er genüsslich in einem sehr interessanten und aufschlussreichen Interview des SZ-Magazins bemerkt.
Die schlimmste Zeit des Jahres ist für ihn der Sommer, wenn die Stadtbücherei Dillingen in den Sommerferien geschlossen hatte.
Mit einem ausgezeichneten Abitur wechselt er dann an die Goethe- Universität nach Frankfurt.
Umgang mit hypochondrischen Totalegozentrikern
Es ist das Glück des Tüchtigen, das den erst 28-jährigen Raimund Fellinger, gerade an seiner Dissertation über Heine sitzend, auf Empfehlung seines Literaturprofessors in die Hände des Suhrkamp Verlegers Sigfried Unseld treibt. Dieser engagiert ihn 1979 nach kurzer Prüfung als Lektor und überträgt ihm bereits nach kurzer Einarbeitungszeit 1980 die Leitung der „edition suhrkamp“, die zuvor von Günther Busch zu einem Flaggschiff der deutschen Gegenwartsliteratur ausgebaut worden ist. Diese – von Willy Fleckhaus unverkennbar im Regenbogendesign gestaltete – Taschenbuchreihe wird für Raimund Fellinger zum Sprungbrett für weitere Aufgaben im Suhrkamp Verlag. So übernimmt er sukzessive das Lektorat und die Herausgeberschaft der Werke führender Autoren des Verlags. Darunter Autoren wie: Uwe Johnson, Thomas Bernhard, Peter Handke, Christoph Hein, Peter Sloterdijk und andere.
Raimund Fellinger ist kein Intellektueller, wie in dieser Branche üblich. Er ist eher der spirituelle Typ, mit einem feinen Gespür für Menschen und einer besonderen Sensibilität für komplexe Situationen. Er wirkt bescheiden, ist ein guter Zuhörer und in der Lage, sein Ego zurückzunehmen, wenn die Situation dies erfordert. Gründe, warum er mit „Kotzbrocken“ und „hypochondrischen Totalegozentrikern“ (https://sz-magazin.sueddeutsche.de/literatur/welcher-schriftsteller-ist-kein-kotzbrocken-82207) wie Peter Handke überhaupt zusammenarbeiten konnte. Gründe auch dafür, warum viele Autoren nur mit ihm zusammenarbeiten wollten. Enormer Fleiß, solides Fachwissen über alle Facetten des Buchwesens, Stilsicherheit, eine umfassende Allgemeinbildung, und die beschriebenen Charaktereigenschaften im Umgang mit den Autoren und den Kollegen im Verlag sind die Gründe für seinen Erfolg.
So gelingt es ihm, als Cheflektor und als Mitglied der Geschäftsleitung des Suhrkamp Verlags das Profil des Verlags entscheidend mit zu prägen und damit auch einen kulturpolitischen Einfluss auf die gesellschaftliche Dynamik in Deutschland zu nehmen. Am 4. Februar 2012 verleiht ihm die Philosophische Fakultät der Universität Greifswald die Ehrendoktorwürde. Damit wird sein Einsatz für die deutsche Gegenwartsliteratur und -kultur gewürdigt. Raimund Fellinger hat als Vorstandsmitglied der Peter Suhrkamp Stiftung die Arbeit des Wolfgang-Koeppen-Archivs intensiv gefördert und Forschungsarbeiten zu Wolfgang Koeppen unterstützt. Noch im gleichen Jahr wird er vom französischen Kulturminister zum „Chevalier“ im „l’ordre des Arts et des Lettres“ ernannt. Mit dieser Auszeichnung würdigt das Ministerium für Kultur und Kommunikation „Persönlichkeiten, die sich auf außergewöhnliche Weise durch ihr Wirken im künstlerischen bzw. literarischen Bereich oder durch ihren Beitrag zur Stärkung der Ausstrahlungskraft der Kultur in Frankreich sowie weltweit verdient gemacht haben“.
Karl-Heinz Schreiner