Theodor Etzel
geb. 9. Jan. 1873 in Gelnhausen, gest. 3. Sept. 1930 in Bad Aibling.
Der 1873 in Gelnhausen geborene und in Kirchberg im Hunsrück aufgewachsene Theodor Etzel war ein ungemein fleißiger Autor von Gedichten, Märchen, Fabeln und Romanen. Er war auch Herausgeber und Übersetzer. So übertrug er z. B. von 1911 bis 1913 die Fabeln von Jean de La Fontaine und übersetzte und edierte in sechs Bänden die gesammelten Werke von Edgar Allan Poe. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war er eine Zeitlang in der Merziger Anstalt tätig. Danach wohnte er in Saarbrücken. In seinem 1922 erschienenen Roman „Das nächste Leben“ beschreibt er die Anstalt und einige ihrer Insassen.
Von 1892 an war Etzel in der Verwaltung der preußischen Rheinprovinz in Düsseldorf beschäftigt, später in gleicher Funktion in Brauweiler bei Köln. 1895 wurde er nach Merzig versetzt, als Beamter in der zum Regierungsbezirk Trier gehörenden, 1876 gegründeten „Rheinischen Provinzial-Irrenheilanstalt“. Bereits ein Jahr später verließ er Merzig wieder und zog nach St. Johann, um dort als freier Autor, Redakteur und Herausgeber zu arbeiten.
1901 ging er nach Berlin, wo er die Zeitschriften „Das moderne Brettl“ und „Fröhliche Kunst“ leitete. Von 1904 bis 1913 lebte Etzel in München als Herausgeber der Literaturzeitschrift „Die Lese“ und, gemeinsam mit Alexander Roda Roda, der in sechs Bänden erschienenen Buchreihe „Welthumor“. „Eine Meisterleistung“, so lobte Kurt Tucholsky die Sammlung. Von 1919 bis 1925 leitete Etzel den Verlag Walter Seifert in Stuttgart und Heilbronn.
Kunstfreund, aber als Beamter unbrauchbar
In Saarbrücken/St. Johann lebte etwa zur gleichen Zeit wie Etzel, von März 1896 bis März 1898, der spätere Skandalautor Hanns Heinz Ewers, Verfasser äußerst erfolgreicher Romane wie „Alraune“ und „Horst Wessel – Ein deutsches Schicksal“. Gemeinsam gaben die beiden mehrere Bücher heraus. 1924 berichtete Fred Hilgers in seinem Aufsatz „Literarisches Leben an der Saar“, was er über Etzel und seine Zeit an der Saar hatte in Erfahrung bringen können. Er stützt sich dabei vermutlich auch auf eine briefliche Mitteilung von Ewers.
„Er [Etzel] hatte zur selben Zeit den Herrn von der Provinzialverwaltung in Düsseldorf den gleichen unumstößlichen Beweis für seine Unbrauchbarkeit erbracht [wie Ewers, rs]. 1895 war Etzel in Merzig gewesen, dann siedelte auch er zu seiner damals in Saarbrücken wohnenden Mutter über. Etzels Bedeutung für das literarische Leben an der Saar liegt darin, dass er hier während einiger Monate den ‚Kunstfreund‘ redigierte (von Januar bis August 1899). Diese Zeitschrift, entstanden aus dem erweiterten Theaterzettel des Saarbrücker Theaters – hier ist also der Gedanke der Theaterzeitschrift zum erstenmal aufgetaucht – enthält außer den Beiträgen der beiden Hauptmitarbeiter Etzel und Ewers eine sehr stattliche Zahl von Früharbeiten von heute wohlbekannten Dichtern. Schon darum haben diese Hefte einen nicht zu unterschätzenden Wert. Link zum Beitrag über Zeitschrift „Kunstfreund“
In den Werken selbst hat Etzel wenig Saarbrücker Motive verwertet, wohl ist manches seiner Gedichte, manche der Fabeln hier entstanden, aber eigentliche Anlehnung an die Saar finden wir nur in seinem Roman ‚Das nächste Leben‘, in dem die Irrenhaustypen aus seinen Beobachtungen während der Tätigkeit in der Heilanstalt geschöpft sind.“
Etzels etwas schwaches spätexpressionistisches Naturgedicht „Oktober“, abgedruckt im „Saarkalender für das Jahr 1924“ (Seite 27), geht vermutlich auf Eindrücke aus seiner Saarbrücker Zeit zurück.
Oktober
Kastanien rechts und links zur Seite.
Ein Sturmwind wühlt im dürren Laub
Und bläst es taumelnd in die Weite.
Im Wirbeln dämpft der Straßenstaub.
Wie welke Greisenhände zittern
Die letzten Blätter im Geäst,
Und in der Zweige kahlen Gittern
Schwankt ein verlassenes Vogelnest.
Während in seinen literarischen Veröffentlichungen (außer in dem erwähnten Roman) tatsächlich kaum Spuren aus seiner Zeit im Saarland zu finden sind, enthält der „Kunstfreund“ zahlreiche journalistische Artikel von Etzel, in denen er Begegnungen mit Einheimischen oder seine (zuweilen alkoholgetrübten) Eindrücke von der Stadt beschreibt, etwa in dem Feuilleton „Im Morgendämmer“: „Ich versuche das Straßenschild drüben zu entziffern – und die Aufschriften an den hohen plumpen Häusern. […] Nach dem Commers – – ich wanke betrunken fort.“ (1898, S. 203).
Über seine Zeit als Angestellter in der Heilanstalt existieren in der Merziger Stadtverwaltung leider keine Angaben über seinen „Personenstandsfall“: „Herr Etzel“, heißt es in einer Mail vom 13. August 2023, „scheint also in der Zeit, in der er hier arbeitete, nicht hier gemeldet gewesen zu sein. Er ist weder in den Zuzugs- noch in den Wegzugsakten zu finden.“ Auch in Saarbrücken ließen sich nach Auskunft des Stadtarchivs (Mail vom 17. August 2023) weder in den Adressbüchern noch in der Meldekartei Unterlagen finden: „Die Meldekartei von Saarbrücken beginnt leider erst um 1900 herum.“
Die Merziger Anstalt in einem „Offenbarungsroman“
Im Verlag Walter Seifert (Stuttgart und Heilbronn) sind zwischen 1920 und 1925 fünf Bücher von Etzel erschienen: eine Märchenerzählung, ein Band mit Fabeln, eine Legendensammlung, ein Gedichtband sowie 1922 das von Hilgers erwähnte Werk über die Merziger Anstalt „Das nächste Leben“, laut Untertitel ein „Offenbarungsroman“. Das Buch hat einen Umfang von 327 Seiten und ist in drei Kapitel unterteilt, die überschrieben sind mit „Der erste Tag“, „Der zweite Tag“ und „Der dritte Tag“. Die Passagen über die Insassen der Heilanstalt finden sich in dem Kapitel „Der zweite Tag“, und dort in den beiden Abschnitten „Entwehte Flammen“ und „Flutendes Leid“. Dabei sind die viele Jahre später entstandenen Beschreibungen einzelner Personen und ihrer psychischen Auffälligkeiten so detailliert, dass sie wohl auf konkrete Erlebnisse Etzels zurückgehen dürften.
Die Protagonisten seines Romans charakterisiert Etzel aufgrund ihres Äußeren oder ihres Verhaltens mit Tiervergleichen. So zwei Angestellte der Klinikverwaltung als Geißbock und Schwein; einen zur Anstaltsrevision angereisten Geheimrat namens Kohl als Storch; den Klinikdirektor als Hund. Mit diesem Verfahren griff Etzel auf seine – zusammen mit Hanns Heinz Ewers verfasste und 1901 in München (Verlag Albert Langen) erschienene – Fabeldichtung zurück. In fast allen diesen zwischen 1898 und 1899 meist in Saarbrücken entstandenen Geschichten lassen die beiden Autoren verschiedene Tiere in der Tradition Lessings als Personen reden. In dem gut zwanzig Jahre später erschienenen Roman drehte Etzel dieses Verfahren nun um: Hier führt er seine Protagonisten als Tiere vor.
Etzels Roman wurde in dem von Ewers herausgegebenen „Führer durch die moderne Literatur – Dreihundert Würdigungen der hervorragendsten Schriftsteller unserer Zeit“ (Berlin 1911, Globus-Verlag) mit einem merkwürdigen Urteil des Kritikers Walter Bläsing gelobt: „Mit seinem Buche ‚Tage des Lebens‘ hat er gezeigt, dass er sich den besten Lyrikern unserer Zeit getrost zur Seite stellen kann; als Meister der Form weiß er zugleich durchaus neue Bilder von oft berückender Schönheit zu finden.“ Ein eher ungewöhnlicher Befund über ein Prosawerk.
Deutlich zutreffender eine Rezension in „Osteuropa“, der „Zeitschrift für die gesamten Fragen des europäischen Ostens“. Darin konstatierte man dem Roman Etzels zu Recht eine „Neigung zur Mystik, zum Okkultismus, zur weltfernen und weltfremden Phantastik“.
Auch der früh verstorbene, etwas konservative Saarbrücker Schriftsteller und Kritiker Arthur Friedrich Binz zeigte sich von der Qualität des Romans nicht überzeugt: „Theodor Etzel, mit Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink einer der Neubegründer phantastisch-mystischer Dichtung in Deutschland, ist erstmalig mit einem mit Ewers gemeinsam verfaßten Fabelbuch bekannt geworden. Sein jetzt vorliegender ‚Offenbarungsroman‘ […] erzählt die Geschichte eines Toten, der entkörpert, für die Sinne der Menschen und Tiere nicht mehr wahrnehmbar, doch gegenwärtig ist und weiterlebt in der Erinnerung der Lebenden und nicht ohne Einfluß auf deren Handeln bleibt. Obwohl ich ganze 327 saubere Druckseiten gelesen habe, bin ich am Ende fast so teilnahmslos als zu Anfang. Was mir angenehm auffällt, ist dies: Etzels Roman ist ruhiger und gelassener als die Bücher seines Freundes Hanns Heinz Ewers, die bis zum Ekel pervers und brünstig sind; auch in sprachlicher Hinsicht verrät Etzels Dichtung Kultur. Doch sehe ich mich nicht veranlaßt, ‚Das nächste Leben‘ zu empfehlen, denn es finden sich unter den Neuschöpfungen des Jahres 1922 weit wertvollere Dichtungen als die Theodor Etzels.“
Klaus Mann war von der Lektüre dieses Romans ebenso wenig angetan. In seinen Tagebüchern notierte er am 20. September 1934: „Gelesen: einen spiritistischen Roman von Theodor Etzel ‚Das nächste Leben‘ (bei Mimi mitgenommen.) Völlig kindisch. So ist es gewiß nicht …“
Für Schäden durch Nachahmung keine Haftung
Die zum Teil recht genauen Beschreibungen der Ticks und Leiden einiger Klinikinsassen sind m. E. der literarisch gelungenere Teil des Romans. Beispielsweise die des rotbärtigen anarchistischen Agitators. Dessen aufrührerische Reden, die emphatisch, leidenschaftlich und geradezu manisch vorgetragen werden, verpuffen harmlos, weil sie hier keine gesellschaftlichen Konsequenzen entfalten können. Dass so jemand in einem ländlichen Umfeld wie Merzig als psychisch kranker Aufwiegler weggesperrt wird, ist für diese Zeit wohl nicht ungewöhnlich.
Der kniende Greis scheint von einem religiösen Wahn besessen. Drei der anderen von Etzel beschriebenen Insassen dürften unter Psychosen leiden, etwa der Apotheker; der Erfinder, der vermeintlich von seinem toten Vater besucht wird, wird von Halluzinationen geplagt; das Agieren der unheimlichen Gestalt in einem Leichentuch scheint auf ein Trauma zurückzugehen; der Pflegling im Garten zeigt Eigenschaften eines Zwangsneurotikers.
Etzels Buch ist 2007 in dem Grazer Verlag „Edition Geheimes Wissen“ in der Reihe „Okkulte Romane“ neu herausgekommen. Auf der Impressums-Seite findet sich folgende Anmerkung bzw. Warnung, die nach Meinung der Herausgeber offenbar notwendig zu sein scheint: „Dieser Druck dient ausschließlich der esoterischen Forschung und wissenschaftlichen Dokumentation. Für Schäden, die durch Nachahmung entstehen, können weder Verlag noch Autor haftbar gemacht werden.“
Die Frakturschrift der Erstausgabe wurde für die Neuausgabe gescannt, leider hat man den Text danach offenbar nur höchst oberflächlich (wenn überhaupt) durchgesehen, so dass zahlreiche sinnentstellende Fehler enthalten sind. Etwa „weihe“ statt „weiße“, oder „zerreibt“ statt „zerreißt“, usw, usw …
Theodor Etzel lebte zuletzt in Ottobeuren und starb am 3. September 1930 in Bad Aibling.
Ralph Schock
Dieser Beitrag ist zunächst in der Zeitschrift „saargeschichten“ erschienen.