Wilhelm Wüllenweber
geb. 4. Mai 1888 in St. Johann, gest. 18. Aug. 1930 in Saarbrücken.

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Der österreichische Autor Joseph Roth pflegte nur selten auf unverlangt zugeschickte Manuskripte oder Bücher ihm unbekannter Autoren zu antworten. Umso erstaunlicher, dass er auf die Zusendung eines ihm unbekannten Autors mit einem ausführlichen Brief reagierte: „Sie sind wirklich ein Dichter“, so adelte er in einem (bislang unveröffentlichten) Brief vom 4. Juni 1929 den sechs Jahre älteren Saarbrücker Arzt und Schriftsteller Dr. Wilhelm Wüllenweber.
Roths Lob galt der Verserzählung „Die letzte Fahrt“ mit dem Untertitel „Romanze“, eine im 20. Jahrhundert selten gewordene Gattungsbezeichnung. Wüllenweber hatte die nur zwanzig Seiten dünne Broschur im Mai 1927 in der Saarbrücker Saardruckerei auf teurem Büttenpapier als Privatdruck in einhundert nummerierten Exemplaren herstellen lassen.
Auf welchem Weg gelangte nun Wüllenwebers Werk in die Hände von Roth, damals als Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Paris? Und wie erfuhr der Saarbrücker Arzt von dem lobenden Kommentar des berühmten Kollegen?
Offenbar las Wüllenweber in den späten zwanziger Jahren die „Frankfurter Zeitung“, damals eine der angesehensten deutschsprachigen Tageszeitungen, in der die renommiertesten Autoren und Journalisten der Zeit regelmäßig veröffentlichten, darunter auch Roth. Im Auftrag seiner Zeitung unternahm dieser in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre ausgedehnte Reisen durch mehrere Länder Europas und schilderte seine Eindrücke in ausführlichen, oft mehrteiligen Feuilletons in der „FZ“. Für eine dieser Reportagen fuhr Roth im Herbst 1927 von Paris über Metz an die Saar, wo er etwa eine Woche lang durch das Land streifte, in eine Grube einfuhr und Gespräche mit Politikern, Geschäftsleuten und Zufallsbekanntschaften führte. Seine Impressionen schilderte er in sieben Artikeln, die unter dem Pseudonym Cuneus zwischen November 1927 und Januar 1928 erschienen sind.
Die Saarregion war 1920 durch den Versailler Vertrag vom Deutschen Reich abgetrennt worden, sie wurde durch eine vom Völkerbund eingesetzte Regierungskommission verwaltet. „Briefe aus Deutschland“, so lautete der Titel der Serie, womit Roth wohl die nationale Zugehörigkeit der Region betonen wollte.
Thema der ersten Folge war die Stadt Metz, das eigentliche Thema der Serie, die Stadt Saarbrücken und die Saarregion, wurden darin nicht erwähnt; umso überraschter dürfte Wüllenweber gewesen sein, als er sechs Tage später, am 22. November, die Überschrift der zweiten Reportage Roths in der Zeitung entdeckte, „Bahnhof von Saarbrücken“.
Gewiss noch unter dem Eindruck der Weltstadt Paris empfand Roth diesen Bahnhof, die Reichs- und Bahnhofstraße und das Zentrum der Stadt als schäbig und provinziell. Seine einschlägigen Bemerkungen und Kommentare stießen bei einem der damals führenden Organe des Landes, der „Saarbrücker Zeitung“, auf entschiedenen Widerspruch. Und so konnte man bereits eine Woche später, am 29. November, in einem vierspaltigen, mit dem Pseudonym „Matz“ gezeichneten Artikel den bemühten Versuch lesen, Roths Eindrücke zu widerlegen oder ins Lächerliche zu ziehen.
Da am 27. November, am 6. und 16. Dezember weitere z. T. kritische Feuilletons Roths über die Region erschienen – über eine Grubeneinfahrt, eine politische Versammlung in Neunkirchen und „Menschen im Saargebiet“ -, legte „Matz“ am 18. Dezember nach, diesmal unter seinem richtigen Namen. Verfasst hatte die beiden Artikel der später zum stellvertretenden Chefredakteur der Zeitung aufgestiegene Ludwig Bruch.
„Bewahren Sie sich ihr zartes Herz und ihr feines Ohr.“
Offenbar hatte Wüllenweber die beiden Artikel Bruchs aus der „Saarbrücker Zeitung“ ausgeschnitten und noch am gleichen Tag, dem 18. Dezember, mit einem Begleitbrief an die Redaktion der „FZ“ nach Frankfurt geschickt mit der Bitte um Weiterleitung an Roth. Wüllenweber kannte damals bereits ein Werk des Autors, denn er erwähnt in einem Brief vom 7. Januar 1928 den ein Jahr zuvor bei Kurt Wolff erschienenen Roman „Die Flucht ohne Ende“.
Wie aus einem Schreiben Roths vom 8. Januar 1928 an Benno Reifenberg hervorgeht, einen der Feuilletonredakteure der „FZ“, wurde Wüllenwebers Brief unverzüglich nach Paris weitergeleitet. Denn bereits eine Woche zuvor, an Neujahr 1928, hatte sich Roth bei dem ihm unbekannten Saarbrücker Briefschreiber persönlich bedankt: „Sehr verehrter Herr Dr. Wüllenweber, die Redaktion der Frankfurter Zeitung übersendet mir Ihren freundlichen Brief vom 18. Dezember 1927 mit dem Auftrag, Ihnen im Namen der Redaktion herzlich zu danken. Gestatten Sie, daß ich es in meinem eigenen ebenso herzlich tue. Es ist mir jetzt, in den Ferien, da ich an der Vollendung eines Buches arbeite, nicht möglich, sofort auf die Anwürfe der Saarbrücker Zeitung zu erwidern. Auch weiß ich nicht, ob die Redaktion der Frankfurter Zeitung es überhaupt wünschen würde. Gelegentlich eines meiner nächsten Briefe aber werde ich mir bestimmt nicht versagen, Herrn Matz eine leichte Ohrfeige zu versetzen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu diesem Zweck jene Nummer der Saarbrücker Ztg. im Kouvert (es genügt eine Seite) zuzuschicken die Güte hätten.
Zustimmungen sind in Deutschland so selten, daß den Autor jede einzelne freut, wie ein Weihnachtsgeschenk. Umso mehr weiß ich eine zu schätzen, die das Niveau der Ihrigen hat. Es tut mir herzlich leid, daß mich der Zufall nicht zu Ihnen geführt hat. Wenn ich noch einmal nach Saarbrücken komme, werde ich nicht verfehlen, Sie zu besuchen.“
Eine Woche später, am 7. Januar 1928, bedankte sich Wüllenweber für den Neujahrsbrief Roths. Dieses Schreiben ist in einer Abschrift im Literaturarchiv in Marbach überliefert. Darin schreibt er u.a.:
„Den Gründen, die den einen oder anderen biedern hiesigen Kaufmann sich ‚entrüsten‘ ließen (es gibt ja auch andere, von denen ich einen ganz einwandfreien Zeugen in meinem Brief anführte) u. die darin gipfeln, Sie hätten für Leser im übrigen Deutschland die Stadt Saarbrücken und die Bahnhofstraße, die doch selbst zu Paris passende prächtige Schaufensterauslagen aufzuweisen hätte, ‚schlecht gemacht‘ – aber das stimmt gar nicht -, solchen Gründen sind sehr leicht sehr gute Gründe entgegenzustellen. Ihre Artikel sagen außerdem überraschend viel tatsächlich richtiges z. B. was Sie über Preise etc. bemerken. Was man aber den guten Leuten nicht begreiflich machen kann, ist ihr Gehalt an sozusagen Kunst, Kunst der Darstellung etc., was sie in litteris zu einem Gegenstück macht zu Handzeichnungen oder Radierungen eines impressionistischen Meisters. Genau wie sie vor ein paar Jahren Slevogt, der im Auftrage der Stadt für einen Dampfer des Norddeutschen LLoyd eine Stadtansicht zu malen hatte, verwarfen, er habe ‚etwas dahingerotzt‘ und die Stadt nicht ‚schön‘ genug gemalt. Während die Herrschaften der ‚Saarbrücker Zeitung‘ offenbar in Ihnen den Eindringling sehen in eine Domäne, die sie sehr zu Unrecht für sich allein gepachtet zu haben glauben. […] Lieber Herr Roth, es soll mich sehr freuen Sie mal hier zu sehen, ich hoffe auch mal wieder was von Ihnen zu hören, wie ich auch mir selbst erlauben werde, den Faden der sich zwischen uns zieht festzuhalten.“
Zu einer persönlichen Begegnung kam es allerdings nicht, denn Roth kehrte nicht mehr an die Saar zurück. Um den „Faden“ zwischen ihnen „festzuhalten“, brachte Wüllenweber, vermutlich mit nicht geringen Skrupeln, seine „Romanze“, die er ein halbes Jahr zuvor hatte drucken lassen, auf den Weg nach Paris. Leider ist sein gewiss beiliegendes Begleitschreiben nicht überliefert. Erhalten hat sich hingegen der (ebenfalls bislang noch unveröffentlichte) Dankbrief Roths vom 4. Juni 1929. Darin findet sich jenes eingangs zitierte Kompliment:
„Lieber Herr Doktor Wüllenweber,
ich stehe tief in Ihrer Schuld. Vor einigen Wochen bekam ich Ihr wunderbares Versbuch mit der sehr schmeichelhaften Widmung, deren ich mich wirklich schämen muß. Grippe, die sich bis zum späten Frühling hinzog, laufende Arbeiten, die Beendigung eines Buches haben mich gehindert, Ihnen sofort zu danken. Ich tue es jetzt herzlich und gerührt. Sie sind wirklich ein Dichter. Ihre Verse (Friedhof) gehören zu den besten, die mir in letzter Zeit vor die Augen gekommen sind. Warum beschränken Sie so krampfhaft Ihre Wirkungsmöglichkeiten?
Ich wünsche Ihnen alles Gute. Bewahren Sie sich Ihr zartes Herz und Ihr feines Ohr.
Ihr dankbarer Joseph Roth.“
Worauf mag Roth mit seiner Bemerkung über Wüllenwebers „krampfhafte Beschränkung“ seiner „Wirkungsmöglichkeiten“ anspielen? Hatte dieser in seinem Begleitbrief angedeutet, dass er wegen seines Berufs kein Bekanntwerden seiner schriftstellerischen Tätigkeit in Saarbrücken wünsche? Ein Hinweis darauf mag die geringe Auflage des Privatdrucks seiner Romanze sein.
Die Geheimhaltung gelang weitgehend, selbst die Saarländische Universitäts- und Landesbibliothek besitzt kein Exemplar der Veröffentlichung. Nachgewiesen ist das Versepos nur im Marbacher Literaturarchiv als einziger deutscher Bibliothek, dort allerdings gleich in zwei Ausgaben mit den Nummern 12 und 45. Vermutlich hatte Wüllenweber einen Druck, die Nummer 45, als Belegstück nach Marbach geschickt. Das andere gelangte als Widmungsexemplar für den Leiter des Leipziger Insel-Verlags Anton Kippenberg mit dessen Nachlass in das Archiv.
Mit welcher Absicht mag Wüllenweber dem bekannten Verleger ein Exemplar zugeschickt haben? Hoffte er auf einen Kontakt zu dem angesehenen Verlag? Plante er, andere Manuskripte von sich dort anzubieten? Oder war es bloß eine freundliche Geste der Verehrung?
Wüllenwebers Schrift wurde seinerzeit offenbar kaum wahrgenommen. Ganz unbemerkt geblieben ist sie nicht, denn Wilhelm Heinrich Recktenwald erwähnte sie in seinem Beitrag „Literarisches Leben im Saarland – Versuch einer Bestandsaufnahme“ in dem von Klaus Altmeyer u. a. herausgegebenen Band „Das Saarland – Ein Beitrag zur Entwicklung des jüngsten Bundeslandes in Politik, Kultur und Wirtschaft“ (1958). Recktenwald schreibt: „Allem Herkömmlichen abhold, in wagendem Rückgriff auf Platon und Dante eine der strengsten lyrischen Formen individuell abwandelnd, legte 1927 Wilhelm Wüllenweber seinen Freunden in einem Privatdruck die ‚Letzte Fahrt‘ vor, ein umfangreiches Gedicht in Terzinen“. Und zitiert anschließend kurz aus einer Rezension des Saarbrücker Kritikers Arthur Friedrich Binz, allerdings ohne Quellenangabe. Die Passage ist entnommen einer Sammelrezension von Binz in der Zeitschrift „Unsere Saar“ mit dem Titel „Junge Dichter von der Saar“, in der übrigens auch das Debüt von Gustav Regler „Zug der Hirten“ gewürdigt wird, der sich darin als „wahrhaft dichterisch gebärende Kraft“ zeige. Binz lobt das Werk Wüllenwebers als ein „mit äußerster Sorgfalt gerundetes und ziseliertes umfangreiches Gedicht in Terzinen. Das Gedicht ist getragen von einer leisen und verschollenen Romantik, erfüllt und überspielt von traumhafter Wehmut und Süße; es ist eine kleine, schmale Kostbarkeit, der es gut zu Gesicht steht, daß man sie nicht im Laden kaufen kann.“
Über die weiteren literarischen Ambitionen Wüllenwebers wissen wir kaum etwas.
Auch über Wüllenwebers Biographie ist nur wenig bekannt, einige Informationen kann man der Saarbrücker Meldekarte entnehmen, die auch kürzere Abwesenheiten verzeichnet. Geboren wurde er am 4. Mai 1888 in der damals noch selbständigen Stadt St. Johann als Sohn von David Wüllenweber und dessen Frau Wilhelmine, geborene Huppert. Er starb am 18. August 1930. Beerdigt ist er in dem Familiengrab an der Seite seiner Eltern auf dem St. Johanner Friedhof in Saarbrücken. Seine mit 37 Jahren verstorbene Mutter hatte er bereits im Alter von zwölf Jahren verloren, sein Vater wurde nur 54 Jahre alt.
Drei Nachrufe auf Wilhelm Wüllenweber finden sich in der „Saarbrücker Zeitung“. Eine „im Namen der Hinterbliebenen“, gezeichnet von Johanna Wüllenweber, geb. Stehle, seiner Witwe: „Heute verschied nach schwerem Leiden mein lieber Mann, unser guter Vater, Schwiegersohn, Bruder, Schwager, Neffe und Vetter Dr. med. Wilhelm Wüllenweber, Facharzt, im Alter von 42 Jahren.“ Einen Tag später eine weitere Anzeige vom Ärzteverein Saarbrücken, der den Verlust eines „eifrigen, standesbewußten Mitglieds“ beklagt. Und am 21. August ein knapper Nachruf des St. Johanner Kriegervereins: „Unser lb. Kamerad wurde im besten Mannesalter uns durch den Tod entrissen. Wir trauern.“
In einem seiner Dissertation anhängenden kurzen Lebenslauf schreibt Wüllenweber: „Im Herbst 1907 ging ich um Philosophie zu studieren nach Berlin, war im folgenden Sommer in Genf, nunmehr bei der medizinischen Fakultät der Universität inscribiert, und ging im Herbst 1908 nach München. Hier unterzog ich mich im Sommer 1913 der ärztlichen Prüfung. Sein Beginn des Krieges (August 1914) beim Heere.“
Auf der Saarbrücker Meldekarte ist als Umzugsdatum nach Genf der 4. Mai 1908 angegeben, am 16. Oktober 1908 ist der Wechsel nach München erfolgt. Am 20. Juli 1912 kehrte er für einige Monate in die elterliche Wohnung in der Bahnhofstraße 89 zurück. Vom 18. März 1913 bis Mitte Oktober 1919 lebte er erneut in München, unterbrochen durch seine ärztliche Tätigkeit im Ersten Weltkrieg.
1914 wurde Wüllenweber mit der Dissertation „Über operative Behandlung von Tuberculose der weiblichen Genitalien“ an der dortigen Königlichen II. Gynäkologischen Universitätsklinik promoviert. Die Arbeit hatte den für medizinische Dissertationen üblichen geringen Umfang; erschienen sind die 29 Seiten noch im gleichen Jahr in dem Münchner Verlag Müller & Steinicke.
Am 18. Oktober 1918 kehrte er für kurze Zeit nach Saarbrücken zurück. Als Wohnadresse ist Viktoriastraße 28 angegeben. Doch bereits zwei Wochen später, am 31. Oktober, erfolgte ein erneuter Umzug nach München für rund drei Jahre, diesmal mit dem handschriftlichen Zusatz „Arzt“. Danach, vom 7. Mai 1921 bis zu seinem Tod am 18. August 1930, wohnte und praktizierte er in der elterlichen Wohnung in der Saarbrücker Bahnhofstraße 89.
Die Verserzählung „Die letzte Fahrt“ ist Wüllenwebers einzige literarische Veröffentlichung. Sie trägt zwei Motti. Das erste: „Da trat hinein die Tochter der Herodias und tanzete, und gefiel wohl dem Herodes und denen, die am Tische saßen.“ Bei der nur mit „Markus“ bezeichneten Quelle handelt es sich um ein Zitat aus dem Markus-Evangelium, Kapitel 6, Vers 22.
Das zweite Motto bezieht sich indirekt ebenfalls auf diesen Evangelisten. Dessen Autor ist der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans (1848-1907). Zunächst in der Tradition der naturalistischen Romane in der Nachfolge Zolas stehend, danach der Dekadenzdichtung und dem Symbolismus zugeneigt, näherte sich Huysmans später dem Katholizismus an mit einer Tendenz zum Okkultismus. Die Protagonisten seines Werks sind nicht selten von Frauen enttäuschte Junggesellen. Dieses zweite Motto lautet: „Aber weder Matthäus noch Markus oder Lukas und die anderen Evangelisten sagen ein Wort von den betäubenden Reizen der Tänzerin. Sie bleibt erloschen, sie steht verschwommen, geheimnisvoll und hinschmachtend, im fernen Nebel der Jahrhunderte.“
Diese Passage stammt aus dem 1884 erschienenen Roman „À rebours“, einem der bekanntesten Werke von Huysmans. Doch findet sich genau dieser Wortlaut weder in der deutschen „autorisierten“ Erstübersetzung von M. Capsius aus dem Jahre 1897 („Gegen den Strich“), noch in der 1921 bei Kiepenheuer unter dem gleichen Titel erschienenen Neuübersetzung durch Hans Jacob. Las Wüllenweber den Roman auf Französisch und übersetzte die Passage selbst? Wegen seines Studienaufenthalts in Genf ist anzunehmen, dass er diese Sprache gut beherrschte.
„Das Spiel von Fleisch und Blut, es ist gewesen.“
Die Romanze trägt folgende Widmung: „In memoriam Alexandra Grigorjewna Sorina“. Bei der Widmungsempfängerin mit dem russisch klingenden Namen dürfte es sich um eine Tänzerin oder Schauspielerin handeln. In dem Versepos deuten zahlreiche konkrete Details darauf hin, dass eine reale Person das Vorbild für Wüllenwebers literarische Figur sein könnte.
Thema der Verserzählung ist die Beerdigung einer Tänzerin oder Schauspielerin. Es gibt Anspielungen in dem Text auf die griechische Mythologie, etwa die Nackttänzerin und Hetäre Phryne, angeblich eine der schönsten Frauen der Antike. Wie diese, so der Autor, habe auch die Verstorbene einst bei einer Tanzvorführung ihren Schleier abgelegt. Und habe „aus altem Erbe (…) um Asiens Liebeskunst und Zauberwonne“ gewusst: „Sie war die Königin, ich ein Vasall.“ Schließlich die Behauptung der Faktizität des Beschriebenen: „Das Spiel von Fleisch und Blut, es ist gewesen.“
Sind diese Bemerkungen über die Verehrung der Tänzerin und ihrer Künste hinaus auch ein Hinweis auf eine Liebesbeziehung zu der Protagonistin? Vielleicht ein unerhört gebliebenes Werben, das, wie es heißt, „ihm zum Verderbe“ wurde?
Gleichwohl reist der Erzähler zur Beerdigung der offenbar in recht jungem Alter gestorbenen Tänzerin per Schiff in ein entferntes Land (in dem „der Lump regiert“), um Abschied zu nehmen: „Der Toten galt ein letztes Wiedersehen, / Dies war mein Ziel, zu dem die Reise führte.“
Die Schilderung des Begräbnisses wird unterbrochen durch ausführliche Beschreibungen eines Schlachtgeschehens, vermutlich während des Ersten Weltkriegs. Wegen der zahlreichen Details der militärischen Auseinandersetzungen liegt wohl auch hier ein konkretes Erlebnis des Autors zugrunde, der als Militärarzt in einem bayrischen Regiment diente.
Genauere Informationen über die Tänzerin ließen sich leider ebenso wenig ermitteln wie über eine eventuelle Beziehung zwischen ihr und Wilhelm Wüllenweber. Ungewiss bleibt auch, ob es in den zwei Jahren bis zu Wüllenwebers Tod weitere briefliche oder persönliche Kontakte zu Joseph Roth gegeben hat.
Warum diese ausführliche biographische und literaturhistorische Recherche? In der Saarregion findet man Mitte der zwanziger Jahre literarische Begabungen nicht eben häufig. Umso wichtiger, jeder einzelnen nachzugehen, auch und gerade dann, wenn es sich um einen so „geheimen Autor“ wie Wilhelm Wüllenweber handelt.
Dies ist die gekürzte Fassung eines Textes, der zuerst in der Zeitschrift „saargeschichten“ (Nr. 66, Heft 1/2022, S. 50-57) erschienen ist.