Kirchturmmuseum, Wiebelskirchen

von Ulli Wagner

Wir schreiben das Jahr 1821. Goethe hat gerade nach ewiger Pause auf „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ die „Wanderjahre“ folgen lassen und sollte eigentlich glücklich sein. Er ist aber aufgeregt und erbost – denn fast gleichzeitig mit ihm hat auch ein anderer „Wanderjahre“ veröffentlicht und darin mit Goethe und seinem Freidenkertum abgerechnet. Und dieses Buch verkauft sich,  sehr zum Ärger des über 70-jährigen,  sogar besser als das des Geheimrats. Es stammt, wie sich bald herausstellt, von Dr. Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen, einem Pfarrer, Arzt und Schriftsteller aus dem Lipperland. Der ist erst 28, als seine „Wanderjahre“ erscheinen, und er muss sich nun jede Menge Schmähungen gefallen lassen.  „Schuft“, „Pusterich“, „Laus“ nennt ihn der Dichterfürst, auch August von Platen zeigt gereimte Verachtung:

Wolltest gern im Dichten deine Lust suchen,
Kleiner Pustkuchen!
Weil dir es nicht gelungen, musst du Leid tragen,
kleiner Neidkragen!
O du Neidkragen! O du Pustkuchen!

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung seiner „Wanderjahre“ kommt jener Pustkuchen als Pfarrer nach Wiebelskirchen. Fast drei Jahre ist er dort tätig und zwar als Seelsorger und als Arzt, dem schon sehr früh die Bedeutung von Hygiene bewusst ist. Während der großen Cholera-Epidemie schafft er in Wiebelskirchen eine Art Quarantäne und rettet so viele Menschenleben, während es in den Dörfern der Umgebung Hunderte Tote gibt.

Pustkuchen wird nicht alt, er stirbt bereits 1834, gerade 40 Jahre alt. Sein Grab befindet sich heute noch auf dem Friedhof von Wiebelskirchen. Ihm zu Ehren ist sogar eine Statue im Dorf aufgestellt worden. Erinnert wird aber schon länger an diesen jungen Mann, der Goethe so erbost hat: in einem Museum, das sich im Kirchturm jener Kirche befindet, in der Pustkuchen Pfarrer war. Naja, fast. Denn dieser sakrale Bau wurde mehrfach verändert, zuletzt 1863, aber er ist sehr viel älter. Der Turm, in dem sich das Museum befindet, besteht zumindest sichtbar aus drei Teilen, die von 1863, 1732 und 1480 stammen. Man vermutet aber darunter noch Reste einer Kirche, die bereits 1369 erwähnt wurde.

Das Alter und die unterschiedlichen Baustile machen diese Kirche zu etwas Besonderem. Einzigartig aber wird sie durch das Museum, das sich ganz oben im Kirchturm befindet, das Kirchturmmuseum von Wiebelskirchen. Es ist nicht ganz einfach, über die schmale Stiege dorthin zu gelangen, aber jede Anstrengung wert. Beim Aufstieg zur alten Orgel kommt man an einer kleinen Öffnung vorbei, die die These stützt, dass dieses evangelische Gotteshaus früher einmal eine Wehrkirche war, in der die Bevölkerung des Dorfes Schutz suchen konnte, vor feindlichen Angriffen etwa. Denn dies war zumindest ein Beobachtungsschacht, in dem aber auch ein Bogenschütze ausreichend Platz hatte. Und eine Etage höher, dort, wo der alte Altar und das alte Taufbecken aufgebaut sind, gibt es eine Tür, die von innen noch einmal mit einem Balken gesichert werden kann. Diese Einstiegsluke ist auch aus dem Innenraum der Kirche zu erkennen. Historiker vermuten, dass der Turm erst später an die alte Kirche angebaut wurde, als Rückzugs- und Schutzraum sozusagen, denn die Behausungen im Dorf waren früher schlichte Holzhäuser, die wie Zunder brannten. In diesem gemauerten Turm konnten die Menschen im Ernstfall über eine Leiter Zuflucht finden vor brandschatzenden Marodeuren.

Zum Museum geht es noch weiter hinauf, aber dafür wird man dort auch doppelt belohnt, mit einem Blick über das Dorf, den man von keinem anderen Punkt aus hat, und mit einem Blick zurück in die Vergangenheit, nicht nur in die von Wiebelskirchen. Da geht es ums Handwerk von früher, um Einrichtungsgegenstände und um Geschirr. Um Kirchengeschichte und kirchliches Leben und um unsere Geschichte und unser Leben.

Da finden sich auch die Presbyteriumsprotokolle aus Zeiten des Dr. Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen sowie gräfliche Post derer zu Nassau-Saarbrücken, die so gütig waren, der Gemeinde in Zeiten der Not Leichentücher zu spenden. Und natürlich gibt es auch in diesem Museum in Wiebelskirchen – auch wenn es in einem Kirchturm ist – etwas von Erich Honecker: einen Glückwunsch an eine gebürtige Wiebelskircherin in einem Altenheim in Ostberlin.

Auch archäologische Funde aus der Kirche unten sind zum Teil oben im Museum im Kirchturm ausgestellt. Dort, wo man einen guten Ausblick hat, wo sich früher Menschen in ihrer Not hin gerettet haben, und wo so manches an jenen jungen Mann erinnert, der einst Goethe erboste und später als Pfarrer und Arzt in Wiebelskirchen Menschenleben rettete. Dessen Name wir fast vergessen haben und der uns doch so geläufig ist, leicht verändert und in ganz anderem Zusammenhang: Pust(e)kuchen.