Peter-Wust-Haus, Rissenthal
Erstaunlich am Leben von Peter Wust ist, wie er sich aus äußerst beengten Verhältnissen zum renommierten Philosophie-Professor emporgearbeitet hat. In seinem saarländischen Geburtsort Rissenthal (heute Gemeinde Losheim am See) besteht die Gelegenheit, sich von diesen Verhältnissen ein anschauliches Bild zu machen. Das Haus seiner Geburt und Kindheit steht noch und ist für Besucher frei zugänglich. 1
In seinem Erinnerungsbuch „Gestalten und Gedanken“ (postum erschienen in seinem Todesjahr 1940) vermittelt Peter Wust, trotz der im Ganzen idealisierenden Tendenz, an vielen Stellen einen realistischen Eindruck von seinem Leben in dieser Zeit. Die folgenden Zitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus diesem Buch. 2
Rissenthal ist in Peter Wusts Kindheit ein „armseliges Bauerndorf“ mit rund 300 Einwohnern in 60 Häusern. Das Dorf befindet sich „in ganz abgeschlossener Lage“, und das Haus, aus dem Peter Wust stammt, ist das letzte in einer Sackgasse, angebaut an eine Häuserreihe. Das Wustsche Haus ist niedriger als die anderen und hat weniger Grundfläche. Manche sprechen gar nicht von einem Haus, sondern von einer Kate. Das Erdgeschoss beherbergt Gute Stube, kleine Küche und schmale Scheune, im Obergeschoss befinden sich die Schlafkammern, darüber in der Dachschräge ein Speicherraum. Die Stube stand als Wohnraum praktisch nicht zur Verfügung, sie wurde nur an Feiertagen benutzt. Peter Wust war das älteste von elf Kindern; auch wenn man bedenkt, dass fünf dieser Kinder schon früh gestorben sind, so ist es für heutige Verhältnisse kaum vorstellbar, auf wie engem Raum die Familie gelebt hat.
Über der Haustür ist das Baujahr 1841 in Sandstein gemeißelt, darüber hängt eine 1956 angebrachte Gedenktafel. Das Objekt wurde 1845 an einen Herrn Fixemer verkauft, d.h. die Familie lebte wohl im Eigentum der Schwiegereltern von Peter Wusts Vater. Ende der 1980-er Jahre wurde das Haus kosmetisch aufgefrischt, die Bauteile wurden dabei sachgemäß erhalten, das Haus steht unter Denkmalschutz. Der Besucher, der heutzutage vor dem Gebäude steht, sieht parterre das Fenster der Stube, die Haustür und rechts das kleine Scheunentor, darüber drei Fenster im Obergeschoss. Eine Außentoilette wurde später angebaut. Die Haustür ist verriegelt, man betritt das Gebäude durchs Scheunentor. 3
An der Wand der schmalen Scheune klären mehrere Schautafeln, hergestellt von der Peter-Wust-Gesellschaft, in Wort und Bild über Leben und Werk von Peter Wust auf. An der gegenüberliegenden Wand zeugen offene Büchertauschregale, die gut gefüllt und geordnet sind, von dem Bestreben, die Dorfbewohner, besonders auch Kinder und Jugendliche, zum Besuch des Hauses zu verlocken. Ein Regal mit saarländischer Literatur enthält natürlich auch Bücher von Peter Wust.
Von der Scheune aus gibt es einen Durchgang in den Wohnbereich. Der Aufgang zu den Dachstuben ist gesperrt (Stand September 2024). Die Räume im Erdgeschoss sind klein, alles ist sparsam und ärmlich möbliert, die Möbel, auch einzelne kleinere Gegenstände sollen teilweise aus der Zeit von Peter Wusts Kindheit stammen. In der Küche steht heute ein alter gusseiserner Kohleherd, wo es seinerzeit eine offene Feuerstelle mit Rauchfang gab. In der Scheune, die ehemals einen gestampften Lehmboden besaß, wurde nachträglich eine Elektro-Fußbodenheizung unter einem Sandsteinbelag eingebaut.
In diesem Haus gab es keine Rückzugsmöglichkeit für den Einzelnen, keinen Raum für Intimität. Um sich das Leben der Familie Wust vorzustellen, darf man nicht nur an die räumliche Enge denken. Man muss sich auch die „lärmende Geschäftigkeit und Geschwätzigkeit, wie man sie so oft in den Bauernhäusern findet“, ausmalen, und das Gemisch aus Gerüchen von Rauch, Essen, trocknender Wäsche, Windeln.

Esszimmer in Wusts Haus
Auch das persönliche Verhältnis der Bewohner untereinander war nicht unkompliziert, der kleine Peter fühlte instinktiv die „leise potentielle Spannung der Eltern“. Das Siebmacherhandwerk und die kleine Landwirtschaft brachten nicht viel ein, zudem drückten Schulden, die aus gescheiterten Unternehmungen des Vaters herrührten. Der Vater „hatte häufig unter starken Gemütsdepressionen zu leiden“. Das Bild der Mutter hat Peter Wust, wie er in einem Brief (31.12.28 an P. Jager) schreibt, in seinem Erinnerungsbuch „aus Pietät“ idealisiert, im Brief nennt er sie „stets streitsüchtig“, mit einem „unglaublich cholerischen Temperament“. Belastet war das Eheverhältnis auch dadurch, dass die Eltern der Frau gleich nebenan wohnten und sich in den Haushalt der jungen Familie einmischten, was bei ihrem Mann „eine gewisse Abneigung“ gegen die Schwiegereltern zur Folge hatte. Wusts Vater konnte sich der häuslichen Atmosphäre allerdings immer wieder entziehen, da er oft lange unterwegs war, um als Hausierer mit einer Kiepe auf dem Rücken die von ihm hergestellten Siebe landwirtschaftlichen Betrieben zum Kauf anzubieten oder beschädigte Stücke vor Ort zu reparieren.

Schlafzimmer von Peter Wust
Den Jungen belastete „die tiefe, schwere Not“ der Familie, er schämte sich dafür, dass seine Familie im Dorf weder beliebt noch angesehen war und im Ruf der „Zigeunerhaftigkeit“ stand (zitierter Brief an P. Jager). Zu seiner Mutter gewann er „nie ein richtiges Verhältnis“ (Brief an Marianne Weber 3.2.1928). Seine Sensibilität, sein „hemmungsloser Wissenstrieb“, sein früher Hang zu Büchern, sein „physischer Ekel“ vor Feldarbeit machten ihn zum Außenseiter in Familie und Dorfgemeinschaft. Erst als 15-Jähriger im Wahlener Pfarrhaus lernte er „zum erstenmal das Leben in gesitteten Formen“ kennen, bekam „die erste Vorstellung von einem durch angenehmere Umgangsformen verschönten Dasein“: „Man lehrte mich, bei Tisch mit Messer und Gabel umgehen, man lehrte mich grüßen und was es sonst allerlei Dinge gibt, die unserem äußeren Sichgeben und Gehaben eine gewisse angenehme Form verleihen.“
Das alles muss man sich vor Augen führen, um zu verstehen, unter welchen Verhältnissen, mit welchen Gefühlen Peter Wust in diesem Haus gelebt hat. 1884 ist er hier zur Welt gekommen, bereits im Winter 1899/1900 zog er zu zwei Großtanten ins Nachbardorf Wahlen, weil ihn dort der katholische Priester auf die Aufnahmeprüfung fürs Trierer Gymnasium vorbereitete (die Entscheidung für den Priesterberuf war für die begabten Söhne armer Leute der einzige Weg, aus dem Herkunftsmilieu aufzusteigen). Danach kam er nur noch in den Schulferien nach Hause. Als er sich 1905, im Alter von 21 Jahren, für längere Zeit innerlich von Kirche und christlichem Glauben abwandte, betrachtete der fromme Vater ihn als „verlorenen Sohn“, und es kam zum Bruch mit der Familie. Von da an ist Peter Wust nicht mehr in sein Geburtshaus in Rissenthal zurückgekehrt, die Ferien verbrachte er bei Verwandten in Püttlingen.
Durch den Besuch des Geburtshauses von Peter Wust kann man sich einen authentischen, sinnlichen Eindruck von der Herkunft des Philosophen und überhaupt von der Lebenswelt der ärmsten Bevölkerungsschicht auf einem Dorf um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verschaffen.