Erste Ausrufezeichen

„Der Trinker“ –
© Jacob Hinrichs
Kurz vor und um die Jahrtausendwende und in den Nullerjahren erscheint das Saarland auf der Landkarte der Comic- und Grafic-Novel-Szene. Dafür stehen insbesondere vier Namen, deren Arbeit Eigenständigkeit aufweist und in ganz Deutschland und darüber hinaus Anerkennung findet: Erik, Flix, Bernd Kissel und Jacob Hinrichs.

Doppelseite aus „Der Trinker“ –
© Jacob Hinrichs
Der im Saarland weitgehend unbeachtete Jacob Hinrichs bewegt sich auf den Feldern der Illustration, des Comics und der im engeren Sinn literarischen Grafic-Novel. Hinrichs wurde 1977 in Saarbrücken geboren und studierte ab 1998 an der Universität der Künste in Berlin und Bilbao. Er lebt in Berlin und arbeitet dort als freier Illustrator für internationale Zeitungen und Zeitschriften. Daneben veröffentlicht er humorvolle ratgeberartige Bücher, die er selbst verfasst und illustriert. Vor allem mit seinen Grafic-Novel-Adaptionen von Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“, Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ und Hans Falladas „Der Trinker“ setzt er Maßstäbe. In Falladas „Trinker“ etwa mischt er die literarische Erzählung mit biographischen Episoden aus dem Leben Falladas zu einer neu zusammengesetzten Geschichte. Hinrichs zeichnerische Umsetzungen sind dabei stark vom Expressionismus geprägt und erinnern entfernt an Masereels Zeichensprache, es zeigen sich aber auch Elemente der tschechischen, eher konstruktivistisch geprägten Zeichenschule.

Titel „Dede“ – © Erik | Kult Comics
Erik (Frank Weißmüller), 1964 in Dillingen/Saar geboren, studierte an der Fachhochschule für Design, der Nachfolgeinstitution der Schule für Kunst und Handwerk, Grafik-Design. Er arbeitete zunächst zehn Jahre in Saarbrücker Werbeagenturen, bevor er sich in Düsseldorf als Werbetexter selbstständig machte. In dieser Zeit begann er, sich dem Comic-Zeichnen zu widmen. Eine erste eigenständige Comicerzählung fand trotz anfänglichem Interesse keinen Verlag. Erik veröffentlichte sie erst 2011-12 als Webcomic. Von Verlagen präsentiert wurden zwei Comic-Reihen: „Dédé“ über den Pariser Privatdetektiv Déchamps, 2010, und einige Monate später „Deae“ über drei nordische Schicksalsgöttinnen, die zuvor monatlich als Comic-Fortsetzungsserie im Netz erschienen waren. „Dédé“ schildert in vier Bänden und einem nachgereichten „halben“ Band makabre, teilweise nekrophile Kriminalfälle um Serienkiller und sich verselbstständigende Mumien. Der an den amerikanischen Fernsehserienermittler „Colombo“ erinnernde, aber wesentlich schlichter gestrickte Privatermittler Dédé löst sie weniger mit Bravour und Kombinationsgabe als durch Zufälle. Nach dem fünften Band über den Ermittler „Dédé“ 2020 sind keine neuen Comicalben von Erik erschienen.

© Erik | Kult Comics
Die geschlossene Comicgeschichte „Deae“ spannt den Bogen über fünf Bände, von denen jeweils einer ein Kapitel erzählt. Nordische Schicksalsgöttinnen versuchen mit Hilfe okkulter Gegenstände einen finsteren Zauberdoktor davon abzuhalten, am Vorabend des Dritten Reichs die Welt in eine dunkle Nacht zu stürzen. In Rückblenden erzählt Erik sehr kenntnisreich die Geschichte der einzelnen Kultgegenstände und ihren Weg durch die Jahrhunderte. Die für Erik typischen gedrängt vollen Panels stehen in der belgischen und französischen Comic-Tradition. Seine häufigen, an filmischen Methoden geschulten Zeichnungen, die in gedämpften Farben gehalten sind, kennzeichnen seinen Stil in besonderer Weise.
Wesentlich stilisierter als Erik und häufig auf Schwarz-Weiß und wenige Grautöne fokussiert, zeichnet Flix (Felix Görmann). Er ist mit Abstand der erfolgreichste und produktivste aus der Riege der Comic-Zeichner mit Saarlandbezug. 1976 in Münster geboren, studierte er an der Hochschule der Bildenden Künste Saar (HBK Saar), der Nachfolgeeinrichtung der Fachhochschule für Design. Schon während seines Studiums veröffentlichte er zwei Comic-Bände, darunter (1998) mit „Who the fuck ist Faust“ eine erste Annäherung an einen Klassikerstoff. Mit seiner Diplomarbeit „Held“, einer autofiktionalen Grafic-Novel, schloss er 2002 sein Studium an der HBK ab. Sie wurde ein Jahr später veröffentlicht und erlangte in kurzer Zeit Kultstatus. In „Held“ schildert Flix seinen Werdegang als Comic-Zeichner von Geburt an bis zu seinem in der Zukunft lauernden Tod. Ein weiteres Jahr später erweiterte er „Held“ um eine ebenfalls autobiographisch gefärbte Liebesgeschichte zum Zyklus, der er 2006 die Erzählung einer Sommerliebe eines einzigen Tages folgen ließ. Autobiographische Spurenelemente finden sich auch in diversen Web-Veröffentlichungen dieser Jahre für den Internetauftritt der Saarbrücker Zeitung (bis 2005) und für Spiegel-Online (2005 – 2007). Nebenher führte Flix mit „Heldentage“ ein Webtagebuch.

Cover „Das Humboldttier“ – © Flix | Carlsen Comics
In all den genannten Veröffentlichungen wirft Flix einen humorvollen Blick auf die kleinen Malaisen und den Widersinn des Alltags, der auch den regelmäßig montags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheinenden Cartoon „Glückskind“ kennzeichnet.
Unter seinen vielen Veröffentlichungen, zu denen unter anderen Kindercomics um den Reporterhund „Ferdinand“ zählen, stechen seine Adaptionen von Werken der Weltliteratur hervor. 2009 wagte er sich zweites Mal an Goethes Meisterdrama „Faust“, zuerst als Fortsetzungsgeschichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dann als Album veröffentlicht. Bei seinen weiteren Literaturadaptionen verlagert Flix die Handlung der Vorlage in die Jetztzeit oder in die nähere Zeitgeschichte. Faust wird in seiner Multikultigeschichte zu einem verpeilten Taxifahrer in Berlin. Sein Adlatus Wagner mit Immigrationshintergrund sitzt im Rollstuhl. Gretchen wiederum ist eine türkischstämmige Muslima. Gott scheut nicht vor fiesesten Tricks zurück, um seine Wette mit Mephisto gegen die drei zu gewinnen.

Covermotiv – © Flix |
Carlson Comics
In Flix’ „Don Quijote“ (2012) verwandelt sich Cervantes Ritter von der traurigen Gestalt in einen alten vereinsamten Querulanten in Mecklenburg-Vorpommern, der einen verzweifelten und aussichtslosen Kampf gegen Windräder und andere moderne Veränderungen seiner Heimatlandschaft ficht. Darüber fällt er zusehends der Demenz anheim.
Eine besondere Ehre wurde Flix zuteil, als er als erster deutscher Comiczeichner einen Spezialband Band „Spirou in Berlin“ zur belgischen Kultucomic-Serie „Spirou und Fantasio“ beisteuern durfte. Er lässt seine Helden im Ostberlin der 1980-Jahre auf der Suche nach dem verschollenen Graf Rummelsdorf eine Reihe merkwürdiger Abenteuer bestehen.
Im Rahmen einer dritten Literaturadaption kam es zu einer für Flix untypischen Zusammenarbeit. Fallen in der Regel seine Comicalben in die Kategorie der Autorencomics, in denen der Zeichner auch die zugrundeliegende Geschichte entwickelt und dann umgesetzt, ist sein „Münchhausen“ von einer Aufgabenteilung gekennzeichnet. Während Flix das Szenario entwickelte, besorgte ein zweiter Comic-Zeichner seine Umsetzung. Die Geschichte vom Lügenbaron ist Anfang des Zweiten Weltkriegs in London angesiedelt. Der barock kostümierte Münchhausen gerät in die Fänge des britischen Geheimdienstes, der ihn der Spionage verdächtigt. Von seinen Lügengeschichten irritiert, zieht die Spionageabwehr den nach London emigrierten Sigismund Freud zu Rate, der in psychoanalytischen Sitzungen die Geistesverfassung von Münchhausen überprüfen soll. Aber auch die Unbedenklichkeitsbeurteilung von Freud wird Münchhausen nicht vor der Todesstrafe retten. Kann man die Comics von Flix trotz einiger Anspielungen als eher unpolitisch und dem allgemein Menschlichen zugewandt bezeichnen, wurde „Münchhausen“ neben einigen historischen Recherchefehlern eine mutmaßlich nicht bewusst gesuchte, aber von Kritikern unterstellte, nationalistische Haltung nachgesagt. Gezeichnet hat den Comic der Saarländer Bernd Kissel.

Münchhausen – © Bernd Kissel
Bernd Kissel wurde 1978 in Saarbrücken geboren und wuchs in Überherrn auf. Von 1998 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung zum Trickfilmzeichner am luxemburgischen „Lycée Technique des Arts et Metier.“ Danach arbeitete er in einem Trickfilmatelier. Ab 2007 erlangte Kissel mit seinen „Saarlegenden“, die zunächst regelmäßig in der Saarbrücker Zeitung erschienen, einige Bekanntheit. Darin verarbeitete er Episoden aus der populären Sammlung „Sagen der Saar“ des Heimatforschers Karl Lohmeyer. Sie erschienen von 2007 bis 2009 in drei Bänden. Bis 2011 ließ Kissel rund um eine fiktive saarländische Familie ebenso episodisch Ereignisse der saarländischen Zeitgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg Revue passieren.

Saarland-Album – © Bernd Kissel | Geistkirch
Kissels auffälliges Interesse für historische Themen zeigt sich neben einer Reihe als didaktisches Material für den Schulbetrieb aufbereiteter Geschichtsereignisse besonders auch in „Freistaat Flaschenhals“, der Nacherzählung eines Kuriosums als Folge des Versailler Vertrags. Nach der Aufteilung des Deutschen Reiches durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs blieb ein schmaler Landstreifen unberücksichtigt und existierte für eineinhalb Jahre als Freistaat.
Spätestens durch die Zusammenarbeit mit Marc-Uwe Kling, dem Verfasser der „Känguru-Chroniken“, wurde Kissel überregional bekannt. Ihre zusammen entwickelten Geschichten rund um ein anarchistisches, Chaos stiftendes Känguru erschienen zuerst auf Zeit-online. Inzwischen liegen sie zwischen Buchdeckeln in zwei Bänden vor. Kissels Zeichenstil bewegt sich zwischen dem sehr aufwendigen von Erik und dem stark stilisierenden von Flix, lässt aber einen Traditionszusammenhang zum französischen und belgischen Comic erkennen. Seine Erzählweise ist von einem humoristischen, freundlichen Grundton getragen.

Ludwigskirche –
© Jürgen Schanz
Die Wimmelbücher von Jürgen Schanz, der 1978 in Dudweiler geboren wurde und seit 2013 Miteigentümer einer Agentur für Illustration und Grafikdesign ist, stellen eine Randerscheinung im saarländischen Comicgeschehen dar. Seine seit 2014 erscheinende Buchreihe „Das Saarland wimmelt“ erfreut sich einiger Beliebtheit. Auf einzelnen panoramaartigen Tableaux erscheinen –
in comichafte Zeichnungen übersetzt – reale Orte, die reale Figuren zu einem bunten Treiben versammeln. Der Betrachter ist aufgefordert, sich daraus kleine Geschichten zu erfinden.

© Catrin Raber | edition raber
Eine weitere Randfigur ist die Illustratorin
Catrin Raber (www.catrin-raber.de). Ihre Veröffentlichungen reichen von Mundartgeschichten, die sie selbst bebildert, bis zu illustrierten Märchen, deren Zeichenstil dem jeweiligen Stoff angepasst ist. Eigenständige Sprechblasenerzählungen finden sich bei ihr kaum.