Immigrantenschicksal in Lothringen
Jean-Marc Reiser gilt als einer der prägenden Comiczeichner und Cartoonisten in Frankreich. Er wurde 1941 im lothringischen Réhon und starb 1983 in Paris. In seinen Comic Alben prangerte er unverblümt gesellschaftliche Missstände an, griff politische und soziale Themen auf, scheute weder Tabubrüche noch Obszönitäten. In Deutschland wurde er vor allem mit „Der Schweinepriester“, eine satirische Betrachtung des modernen Lebens, bekannt. Mit Freunden gründete er 1960 das Comicmagazin „Hara-Kiri“, das sich als Undergroundcomic Kultstatus erwarb und 1970 verboten wurde. Auch für das Nachfolgemagazin „Charlie Hebdo“ arbeitete er. In Deutschland erschienen allein 19 seiner Alben. Seine sehr einfach gehaltenen, karikaturhaften Zeichnungen wurden stilbildend.
Den 1960 in Épinal geborene Frédéric Boilet kann man als Vermittler zwischen der japanischen und europäischen Comickultur bezeichnen. Er studierte Ende der 1970-er, Anfang der 1980-er Jahre an der École Nationale Supérieure d’Art in Nancy und legte zu seinem Studienabschluss 1983 mit „Le Nuit des Archées“ sein erstes Comicalbum vor, dem eine zweibändige historische Geschichte folgte. Die Erfahrung eines ersten Japanaufenthaltes verarbeitete er 1993 in „Love Hotel“, die skurrilen Erlebnisse eines Franzosen in einer fremden Kultur. Seit 1997 lebt er in Japan und veröffentlicht Comics für den dortigen Markt, bleibt aber auch als Zeichner und Autor französischsprachiger Grafic-Novels tätig. Sein Zeichenstil changiert zwischen Marvel-Comics und Mangas. Er versucht auch, japanische Kollegen und Kolleginnen in Frankreich bekannter zu machen.
Mehr auf das jüngere Publikum zugeschnitten sind die Comics der Illustratorin Reine Kurth (1973 geboren in Basse-Ham). Nach eigenem Bekunden erzählt sie von der Magie im Alltäglichen, lässt aber auch gesellschaftliche Themen wie Neoliberalismus, die Konsumgesellschaft oder die Gleichstellung aller Menschen anklingen. Sie lebt heute in Bremen.
Den Abschluss der Rundreise durch die großregionale Welt der Comics soll Baru (Hervé Barulea) bilden. Baru wurde 1947 in Thil, Departement Meurthe-et-Moselle geboren. Als Sohn einer Bretonin und eines italienischen Einwanderers erzählt er autobiographisch inspiriert in seinen seit 1982 erscheinenden Alben sozialkritische Geschichten aus dem Arbeiter- und Einwanderermilieu. Seine Trilogie „Bella Ciao“ (2020, 2021, 2022) etwa spannt den Bogen der italienischen Einwanderergeschichte in Frankreich von den ersten Saisonarbeitern im 19. Jahrhundert über die Arbeiterrebellion gegen Gastarbeiter bis hin zum Niedergang der Stahlindustrie. Baru zeichnet unter Bezugnahme auf historische Ereignisse ein vielschichtiges Zeitpanorama eines von Armut geprägten Milieus zwischen Identitätsverlust und Integration. Der Alltag der Einwanderer, die Nöte der darin aufwachsenden Jugendlichen werden dabei deutlich. Auch in seinen anderen sehr zahlreichen Veröffentlichungen kehrt er immer wieder zu diesen zentralen Themen zurück. Eine Ausnahme bildet der Band „Bonne Année“ von 1999, der ein düsteres Zukunftsbild Frankreichs nach der Machtübernahme Rechtsradikaler entwirft. Baru zählt heute zu den anerkanntesten Comiczeichner und Grafic-Novel-Autoren in Frankreich.