Literatur der 20er Jahre in der Saarregion

Fast nichts? Zur Literatur der 20er Jahre in der Saarregion

Von Ralph Schock

Themen, Schreibstile und Selbstverständnis der Autoren jener Jahre waren so uneinheitlich wie die Region selbst, die durch den Versailler Vertrag erstmals zu einer Verwaltungseinheit zusammengefasst worden war. Ein gesamt-saarländisches Identitätsgefühl existierte bei den in ihrer Mentalität höchst unterschiedlichen Bewohnern so wenig wie unter den Autoren. Nicht wenige von ihnen verließen ihre als zu eng empfundene Heimat, strebten in die Metropolen. Etliche konnten sich überregional einen Namen machen; dass sie mit der Saarregion verknüpft sind, ist hier meist unbekannt.

Von den im Land gebliebenen Autoren hat kaum je einer deutschlandweit Beachtung erfahren. Kürschners „Deutscher Literaturkalender“ nennt 1930 neun Autoren an der Saar: acht in Saarbrücken, eine in Homburg. Von ihnen werden heute nur noch Klara Marie Faßbinder und Arthur Friedrich Binz in regionalen literaturhistorischen Darstellungen zuweilen erwähnt. Die Homburgerin Marga Thomé etwa, die unter dem Pseudonym Camilla Werner veröffentlichte, bleibt selbst in einschlägigen Werken unerwähnt. Auch die Saarländische Universitätsbibliothek besitzt kein einziges Werk von ihr.

„Unser Saarland ist von der Sonne des Geistes kaum beschienen worden“, urteilte Peter Wust 1930 über die Literatur jener Jahre. „Man muss es sich eingestehen, soviel wie ein prope nihil.“ Man mag dieses „fast nichts“ dem in Münster lehrenden christlichen Existenzphilosophen nachsehen, dürfte er doch die jüngere Autorengeneration kaum gekannt haben. Doch es gab sie: Schriftsteller von der Saar, die in den 20er und frühen 30er Jahren in z. T. renommierten Verlagen veröffentlichten.

Etliche Namen wären zu nennen, bekannte und vergessene; im Land gebliebene und fortgegangene oder wegen ihres Glaubens vertriebene; erfolgreiche und gescheiterte; nicht zuletzt jene, die die Region besucht und ihre Eindrücke notiert haben. Mir scheint, dass gerade der Blick von außen, gepaart mit hohem schriftstellerischem Können, oft Erhellenderes erfasst über das Land, die Menschen und ihre Mentalität, als es manch ansässiger Autor vermag.

„Demütige Unsicherheit bis ins dritte Glied“

Zu diesen Beobachtern gehört Joseph Roth, der den Zusammenhang von Untertanengeist und autoritärer Herrschaftsstruktur subtil nachzeichnet. So schildert er am Beispiel des Einkaufsverhaltens einer einfachen Frau aus Neunkirchen den Zusammenhang zwischen der Statue des Freiherrn Stumm, seinem „Denkmal und der Einkaufsfurcht im Warenhaus und Subalternität; Zusammenhänge zwischen einer demütigen Unsicherheit, die sich bis ins dritte und vierte Glied fortpflanzt, und einer patriarchalischen Erziehung durch einen Unternehmer, der sich um Ehe und Verlobung, Wochenlohn und politische Gesinnung, Kindertaufe und Sargbeschaffenheit der Untertanen kümmert“. Roths kritische Kommentare provozierten heftige Reaktionen bei der „Saarbrücker Zeitung“.

Saarente Ill

Der überregional bedeutendste Autor aus dem Saarland war gewiss Gustav Regler. Nach dem Debüt „Zug der Hirten“ (1928) erschien vier Jahre später seine Anklage gegen die unmenschlichen Zustände in den Gefängnissen der Weimarer Republik („Wasser, Brot und blaue Bohnen“). Mit dem Agitationsroman „Im Kreuzfeuer. Ein Saarroman“ engagierte er sich dann im Abstimmungskampf. Zusammen mit Arthur Koestler redigierte Regler „Die Saar-Ente“, eine achtseitige satirische Beilage der „Arbeiter-Zeitung“, Organ der KP-Saar, erschienen am 6.1.1935.

Der bekannteste Autor jener Jahre im Saarland, der wie Regler inzwischen mit einer Werkausgabe geehrt wurde, dürfte der katholische Pfarrer Johannes Kirschweng gewesen sein. 1935 erschien „Das wachsende Reich“, ein Propagandawerk wie Reglers Saar-Roman. Er verklärte das faschistisch regierte Deutschland als den „neuen Morgen“, dem sein Protagonist „inbrünstig entgegenhoffte, dem Morgen der Freiheit, dem Morgen der Größe und der Liebe, dem Morgen Deutschlands“. Gleichzeitig lässt Kirschweng seinen Helden in sehr unchristlichen Gewaltphantasien schwelgen: „Was da anstürmte gegen den deutschen Graben, das war der Feind Deutschlands. Es war jetzt nicht mehr erlaubt und möglich, in diesem heranbrausenden Ungeheuer Menschen, einzelne Menschen zu sehen. […] Und man mußte schießen, schießen, schießen“. Und der Autor gibt sich allerlei Phantasien hin über ein Deutschland bedrohendes „grausige[s] Negerheer“, das entstellt sei von den „Furchen ungezügelter Lüste“.

„Nicht bewusst ‚Saarländer‘ gewesen“

Wie Regler verließ auch die zwei Jahre ältere, in Saarbrücken geborene Maximiliane Ackers ihre Heimat. Wie Regler wohnte sie in Berlin, wo 1923 ihr Buch „Freundinnen. Ein Roman unter Frauen“ erschien. Dessen Thema, eines der ersten einschlägigen Werke, war die lesbische Liebe. Schon im ersten Jahr erreichte es eine Auflage von 10.000 Exemplaren.

Hingegen war Liebe unter Männern das Lebensthema des ebenfalls in Berlin lebenden Anarchisten John Henry Mackay, der 1864 in Schottland geboren wurde. Seine verwitwete Mutter heiratete neun Jahre später den in der Saarbrücker Pestelstraße wohnenden Baurat Alfred Dumreicher. „Die Menschen der Ehe. Schilderungen aus der kleinen Stadt“, Mackays Roman über Saarbrücken, ist 1892 bei S. Fischer erschienen. Homosexuelles Begehren war das zentrale Thema des Romans „Der Puppenjunge“ (1926). Mackay starb eine Woche nach der Bücherverbrenung, am 16. Mai 1933 in Berlin.

Während seines kurzen Lebens stets im Saarland geblieben ist der Saarbrücker Volksschullehrer, Autor, Herausgeber und Kritiker Arthur Friedrich Binz (1897–1932). 1921 veröffentlichte er den Erzählungsband „Bilder um David“, er gab zahlreiche Anthologien heraus und rezensierte v. a. neue französische und englische Literatur. Wilhelm Recktenwald zweifelte in seinem Nachruf in der Zeitschrift „Die Westmark. Monatsschrift für deutsche Kultur“ denn auch an der völkischen Zugehörigkeit von Binz: „In seinem Blut ist nichts von Kampf. […] Es will scheinen, Binz sei nicht bewusst ‚Saarländer‘ gewesen. […] Für den Dichter Binz war die heimatliche Landschaft kein unentbehrlicher Erlebnisgrund.“

Lebensaufgabe der Pazifistin Klara Marie Faßbinder (1890–1974) war die deutsch-französische Aussöhnung. In Trier geboren, zog sie Anfang der 20er Jahre nach Saarbrücken. Sie unterrichtete an der Cecilienschule und organisierte als Geschäftsführerin des Bühnenvolksbundes Theateraufführungen im Saarland. 1925 erschien ihre Biographie Romain Rollands, zwei Jahre später ihre Dissertation über den französischen Trobador Raimbaut de Vaqueiras und 1928 und 1930 die Darstellung „Frauenleben durch die Jahrhunderte“. Nach 1935 hielt sie sich als Übersetzerin aus dem Französischen über Wasser.

Eine erfolgreiche Autorin aus der Region mit einem umfangreichen Werk ist die 1897 als Herta Strauch in Saint-Avold geborene, in einem jüdischen Elternhaus aufgewachsene Adrienne Thomas. Ihr 1930, drei Jahre vor ihrer Emigration, erschienener Anti-Kriegsroman „Die Katrin wird Soldat“ wurde in 16 Sprachen übersetzt.

„Abenteuer einer neuen Heimat“

„Es war ein verteufeltes Leben für einen jungen Mann, der in Deutschland gerade seine erste Lyrik veröffentlicht hatte“, schreibt Arno Ullmann, Autor und Übersetzer, in seinem Buch „Israel. Abenteuer einer neuen Heimat“. 1907 in Saarbrücken geboren, emigrierte er 1935 nach Palästina. Seit 1927 verfasste er Feuilletons u. a. für die Saarbrücker „Volksstimme“, er korrespondierte mit Wilhelm Lehmann und gab 1932 die Anthologie „Mit allen Sinnen. Lyrik unserer Zeit“ heraus mit eigenen Beiträgen und Gedichten u. a. von Max Herrmann-Neisse, Theodor Kramer und Peter Huchel. In der Zeitschrift „Der Querschnitt“ veröffentlichte er 1930 ein mit „Saarbrücken“ überschriebenes Gedicht: „[…] Abends stehen die Liebespaare in den Haustüren, / und sie schreiben die Schrift der schnellen Begierde / mit ihren Füßen / in die Kartoffelfelder und das hochgewachsene Korn.“

Bruno Weil, 1883 in Saarlouis geboren und 1961 in New York gestorben, ein für jüdische Vereinigungen international tätiger Rechtsanwalt, wurde in Le Vernet interniert. Er veröffentlichte Sachbücher über „Die jüdische Internationale“ (1924) und einen Reisebericht über Palästina (1927). Sein Werk über den Dreyfus-Prozess (1930) wurde in mehrere Sprachen übersetzt, und neun Auflagen erreichte noch im Jahr der Erstveröffentlichung das Buch „Glück und Elend des Generals Boulanger“ (1931).

Weinert Gedichte FeindNach 1933 flohen zahlreiche Autoren ins Saargebiet. Der Abstimmungskampf brachte auf beiden Seiten eine Flut von Veröffentlichungen hervor. So publizierte etwa der bekannte Schriftsteller Erich Weinert 1934 im Saarbrücker Wedding-Verlag den Band „Pflastersteine. Gedichte gegen den Feind“. Weinert (1890-1953), seit 1929 Mitglied der KPD, war über die Schweiz und Frankreich am 1.10.1933 an die Saar emigriert, wo er auf zahlreichen Veranstaltungen der Hitler-Gegner auftrat. Am 3.11.1934 wurde er ausgebürgert. Wegen der Entführungen ins Reich wohnte er bis Januar 1935 mit Frau und Tochter im Restaurant Woll in Frankreich. Der Band „Pflastersteine“ ist die einzige Publikation des Saarbrücker Wedding-Verlags.

Ein anderer zeitweise im Saargebiet lebender Schriftsteller war Konrad Heiden (1901-1966), 1933 bis 1935 Redakteur der Zeitschrift „Deutsche Freiheit“. Unter dem Pseudonym Klaus Bredow schrieb er, um die Abstimmung 1935 zu beeinflussen, die Broschüre „Hitler rast“. Nach der Abstimmung floh er nach Frankreich.

Hitler rastIn diesem Beitrag konnten nur einige Autoren der 20er Jahre erwähnt werden. Die Auswahlkriterien waren subjektiv. Gewiss werden manche Namen vermisst; Namen, die jedoch seit Jahren in einschlägigen Veröffentlichungen stets aufs Neue genannt werden. Manche Abgrenzungs- und Differenzierungsbemühungen, ob ein Autor nun mit völkisch-nationaler oder doch mit nationalsozialistischer Überzeugung schreibe, beschäftigen mich kaum. Etwa der Fall des 1914 in Saarbrücken geborenen Lyrikers Karl Heinz Bolay. In seiner 1942 erschienenen Anthologie „Deutsche Weihnachten“ sorgt er sich über „den Bestand der deutschen Seele“ im „heutigen Weltkampf“ und hofft, sein Werk möge bei der „Feier der nationalsozialistischen Gemeinschaften“ dazu beitragen, das Fest „von seiner Überwucherung mit artfremdem Brauchtum und Gedankengut zu reinigen“.

Auch Neuauflagen meist trivialer Heimatliteratur mögen ihre Leser finden. Und für Texte saarländischer und nicht-saarländischer Autoren, die für den Anschluss der Saar an Hitlerdeutschland warben, gilt, was Heinrich Lersch am 2.8.1934 dem aus Malstatt stammenden Mathias Ludwig Schröder antwortete: „Also innigstes Beileid auf Deine Mißgeburten. Anbei retour“.

Hier kein weiteres Wort über sie, solange Autoren der 20er und 30er Jahre, oft jüdischen Glaubens, hierzulande noch immer unbekannt sind.

Der Text von Ralph Schock wurde zuerst in etwas gekürzter Form veröffentlicht im Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums Saar „Die 20er Jahre – Leben zwischen Tradition und Moderne im internationalen Saargebiet (1920-1935)“, erschienen im Michael Imhof Verlag, Petersberg 2020. Veröffentlichung auf unserer Website mit freundlicher Genehmigung des Autors.