geb. 14. Dez. 1927 in Berlin, gest. 13. März 2020 in Tiflis
Das tragische Schicksal des deutschsprachigen georgischen Schriftstellers ist geprägt vom Ost-West-Konflikt, aber auch das Saarland hat eine Spur in seinem Werk hinterlassen.
Margwelaschwili wird geboren als Sohn georgischer Eltern, die nach der Annexion ihres Landes durch die Rote Armee 1921 nach Berlin emigriert sind. Die Mutter begeht 1937 Selbstmord, der Vater, der im Dritten Reich Vorsitzender der Vereinigung der Exilgeorgier war, wird 1946 zusammen mit dem 18-jährigen Sohn aus der britischen Zone von Berlin in den Ostteil der Stadt verschleppt. Titus von Margwelaschwili wird in Georgien erschossen, Giwi zunächst in Sachsenhausen interniert, wo schon die Nazis ein KZ betrieben, und 1947 in die georgische Hauptstadt Tbilissi (Tiflis) verbannt. Er spricht bis dahin weder Georgisch noch Russisch, kann dank der Hilfe von Freunden und Verwandten Germanistik studieren und arbeitet zunächst als Deutschlehrer. 1971 wird er an die Georgische Akademie der Wissenschaften berufen und tritt mit philosophischen Publikationen hervor.
Daneben verfasst er, ohne Aussicht auf Veröffentlichung, umfangreiche literarische Texte. Die Besonderheit einer Gruppe dieser Texte, von ihm selbst „ontotextologisch“ genannt, besteht darin, dass sich in ihnen die literarischen Figuren aus der Gefangenschaft der ihnen im Text zugewiesenen Rolle befreien und sich weiterentwickeln können.
Im Zuge der Perestroika kann Margwelaschwili nach Deutschland reisen und ab 1991 in rascher Folge einige seiner Romane veröffentlichen, darunter die 1961 begonnene Autobiographie „Kapitän Wakusch“. 1993 lässt er sich in Berlin nieder. Er wird mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. 1994 erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit 2011 lebt Giwi Margwelaschwili wieder in Georgien. Nachdem Navid Kermani, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, ihn dort 2017 für eine „Spiegel“-Reportage besucht hat, beschreibt er den Autor in einer „Spiegel“-Reportage (Nr. 51/2017) als „gebeugt zwar, gebrechlich, die weißen Haare schulterlang, aber hellwach sein Geist“.
SR-Literaturredakteur Ralph Schock macht 1990 in einem Beitrag für die „Saarbrücker Hefte“ auf den Autor aufmerksam. Er berichtet von einem Besuch bei Margwelaschwili in Tbilissi im November des Vorjahres, bei dem er Tonaufnahmen machen konnte. Kennengelernt habe er dabei „einen faszinierenden Menschen und einen besessenen Autor, der in einer gewaltigen Anstrengung sein einzigartiges Schicksal nicht nur nachzuzeichnen sich vorgenommen hat, sondern dieser verrückten Biographie mit großer Verzweiflungskraft einen Sinn zu geben sich bemüht“.
1990 hält Margwelaschwili sich im Rahmen eines Stipendien-Aufenthaltes für vier Wochen in Saarbrücken auf. Als so genannter „Turmschreiber“ aus der Saarbrücker Partnerstadt Tbilissi residiert er dabei im Gersweiler Wasserturm und wohnt in einem Hotel im Saarbrücker Stadtzentrum. Dort inspiriert ihn eine auf einem Wandteppich im Frühstücksraum dargestellte Szene zu einem Roman. 1 Dessen Grundidee beschreibt er so: „Ich fingiere ein Kommando aus Realpersonen, das in die Vergangenheit geht, um die Zeit des Glücks und des Friedens von Fürst Ludwig und seiner Gänsegretel (→ Katharina Kest) ein wenig zu verlängern.“ ZITAT
Zitate von Giwi Margwelaschwili
Start im Fuchs
Wir sitzen im Fuchs zu Saarbrücken am Tisch und trinken noch eine Tasse Kaffee, bevor es losgeht. Mit dem Wir meine ich in erster Linie Sie, lieber Leser. Und dann sind da die Damen Claudia Christoffel und Bornholdt-Fried, die Herren Silkenbeumer, Kranz, Ladwein, Schock und ich. Herr Schock ist vom Saarländischen Rundfunk, alle übrigen vom hiesigen Kulturamt. Was uns an diesen Tisch zusammengebracht hat, ist allerdings etwas, was mit dem beruflichen Interesse aller dieser netten Menschen mindestens bis heute direkt noch nichts zu tun hatte, was sie jedoch in der nächsten Zeit in Atem halten wird.
Ich darf das mit besonderer Befriedigung sagen, denn die Saarbrücker Stadtverwaltung, die mich für einen Monat zum Stadtschreiber ernannt hat, ist auf alle meine Vorschläge eingegangen. Sie hat meiner Behauptung, daß sie sich doch auch als Geschichtsbuchweltverwaltung betrachten müsse, sofort zugestimmt und mir für ein resolutes Agieren in diesem ebenso wichtigen wie seltsamen Verwaltungsbereich freie Hand gegeben. Nach mehreren Besprechungen auf dem Gersweiler Wasserturm (der mir hier als Arbeitsstelle bestimmt wurde), wobei ich unter Verweis auf meine reiche Erfahrung mit dem Innenleben verschiedenster Gedichts- und Geschichtsbuchwelten dem Saarbrücker Stadtrat den Begriff der abgebrochenen Pantomime entwickelte, wurde das Experiment bewilligt. Ich durfte mir die Leute, die dafür nötig waren, aussuchen und – vorausgesetzt natürlich, daß man mit echtem Enthusiasmus für die Sache mitmachte – meine Expedition zusammenstellen.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist soweit. Lieber Leser, jetzt kommt alles auf Sie an. Jawohl! Und starren Sie nur nicht so erstaunt! Denn Sie sind hier wesentlich mit im Spiel. Ohne Ihre Einbildungskraft kämen wir keinen Schritt vorwärts.
Sehen Sie den Wandbehang an der Hinterwand dieses Frühstücksraums? Der Wandteppich ist ziemlich groß und zeigt eine Jagdszene: Acht Reiter mit Hunderudel hetzen einen Hirsch durch einen Bach. Fern im Hintergrund grüßt ein Schloß. Die gewobene Bildweltszene spielt – aus der Kleidung der Jäger läßt sich das schließen – um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Können sie den Wandteppich sehen? Ja?
Denken Sie sich und uns alle bitte in dieses Bild hinein und auf die Jäger zu! Das können Sie durchaus, denn der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Meine Damen und Herren, haben Sie zu Hause Bescheid gesagt, daß Sie mindestens deri Tage weg sein werden? Ja? Dann ist alles in Ordnung. Nun, lieber Leser, was zögern Sie noch? Bilden Sie uns dort endlich ein und bitte schnell! Wir haben keine Geschichtsbuchweltzeit mehr zu verlieren.
Kurzer Stopp bei Bildweltjägern
Wir stehen mitten in dem Bild, also kurz vor dem Reiterschwarm und – was nicht gerade angenehm ist – auch nicht so weit weg von der Hundemeute. Die hat uns nämlich gewittert und wendet sich mit ohrenbetäubendem Gekläff nach uns um. Hinzu kommt, daß uns alle der plötzliche Weltwechsel (der jähe Eintritt in die Innenatmosphäre des Bildteppichs) etwas verwirrt hat. So hätte nicht viel gefehlt und wir wären von der Meute zerrissen worden.
Da ertönt – von den reitern her – ein lautes, raues Kommando, und die Hunde weichen gleich wütend zurück. Ein Reiter löst sich von der Gruppe und kommt näher. „Wer seid ihr?“
„Realmenschen“, würge ich mühsam als Antwort hervor, denn selbst mit dem reden will es bei uns noch nicht so richtig gehen.
„Realmenschen! Es sind Realmenschen!“, ruft der Reiter jubelnd den anderen Jägern zu. Die brechen in ein Hurra aus und haben uns im Nu umringt. An die Jagd denkt niemand mehr. (Der Hirsch ist ja auch längst über alle Berge.) wir schütteln allen Bildweltleuten die Hand. Sie sitzen ab und dann beginnen – weil wir inzwischen wieder z8u Atem gekommen sind – die Gespräche. Wir erfahren, daß diese Bildweltmenschen (wie überhaupt alle Menschen dieser Gattung) immer sehnsüchtig auf einen Besuch von Realmenschen in ihrer Welt warten.
„Euer Aufenthalt wirkt befreiend“, erklären sie. „Es reiß uns aus unseren ewig unveränderlichen Bildweltposen heraus und gibt uns unsere Bewegungsfreiheit zurück. Nicht nur uns, sondern auch unseren Pferden, unseren Hunden, dem Wild, überhaupt allem, was in der Bildwelt kreucht und fleucht. Seid willkommen!“ wir werden sogleich zu einem Fest in das ferne Jagdschloß eingeladen. Nun wäre nichts interessanter, als die Bildweltmenschen näher kennenzulernen. Meine Gefährten sind vor Aufregung über diese Begegnung ganz zappelig und nicken eifrig.
Doch ich muß leider eingreifen. „Pardon“, sage ich in bestimmtem Ton, „wir können leider nicht länger bleiben, weil es sehr dringliche Geschäfte in euren Bild- und Geschichtsbuchwelthintergründen zu erledigen gibt. Dazu brauchen wir eure Pferde. Seid bitte so freundlich und gebt sie uns. Wenn wir auf dem Rückweg hier wieder vorbeikommen, erhaltet ihr die Tiere selbstverständlich wieder zurück.“
„Aber bitte schön!“, rufen die Bildweltjäger, beinah wie aus einem Mund, „nehmt ruhig unsre Pferde, wenn ihr sie gebrauchen könnt! Das Schönste, was uns Bildweltmenschen je widerfahren kann, ist, Realweltmenschen behilflich zu sein.“
„Allerdings“, sagt einer der Jäger in einem leiseren, warnenden Ton, „dürft ihr nicht allzu lange wegbleiben. Das wißt ihr hoffentlich? Die unthematische Freiheit von der Bildweltstarre ist zwar süß und wir werden sie nutzen. Darauf könnt ihr euch verlassen. Andererseits darf sie nicht allzu lange währen. Bildweltmenschen, ja, Bildweltwesen überhaupt existieren vornehmlich in ihren typischen Bildweltposen und Bildweltverhaltensweisen. Zu alnge davon befreit zu sein, bedeutete sicher nichts Gutes. Unsere Bildwelt müßte sich auflösen und wir alle verschwänden im Nichts. Der Hirsch zum Beispiel, den wir gejagt haben und der uns entkam, weil ihr hier reinkamt, wird – es klingt unglaublich, ist aber reine Bildweltwahrheit – von seinem Selbsterhaltungstrieb geführt bald wieder hier erscheinen. Ebenso wird es unsere Jagdhunde wieder an diese Stelle ziehen, und wenn wir dann nicht genau auf denselben Pferden sitzen wie in diesem Augenblick – er ist unser ewiger Bildmoment -, sind wir alle verloren.“
„Ich weiß, ich weiß“, beruhigte ich den Bildweltjäger, ihm dabei freundlich auf die Schulter klopfend. „Unsere Reise vollzieht sich nach genau festgelegten Bild- und Geschichtsweltterminen. Wir werden pünktlich zurück sein. Da könnt ihr sicher sein.“
„Gut!“ die Bildweltjäger überlassen uns freundlich ihre Pferde und wir sitzen gleich auf.
„Wohin geht’s?“, fragt uns ein Jäger lachend, bevor wir abreiten.
„Zum Gänsegretel“, antwortet Herr Ladwein.
aus Giwi Margwelaschwili: Das Lese-Liebeseheglück. Mit freundlicher Genehmigung des Verbrecher Verlags Berlin
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2002 erhält Margwelaschwili den → Gustav-Regler-Preis der Stadt Merzig. Der Saarbrücken-Roman erscheint 2011 im saarländischen Gollenstein-Verlag unter dem Titel „Das Lese-Liebeseheglück“. (RP)