Jörg W. Gronius
geb. 18. Sept. 1952 in Berlin
Jörg W. Gronius, ein äußerst vielseitiger Autor aus Berlin, bereichert seit 2006 das Literaturleben in Saarbrücken.
Gronius ist Dramaturg, Regisseur, Rezitator, Autor von Theaterstücken, Opernlibretti, Romanen, Kurzgeschichten, Lyrik, Features, Essays, Sachbüchern. Als Theatermann hat er an den großen deutschsprachigen Theatern gearbeitet. Seit 1993 zusammen mit Bernd Rauschenbach Veröffentlichung dadaistischer Theaterstücke, die sie in szenischer Lesung vortragen. Für seine Romantrilogie auf autobiografischer Basis („nichts erfunden“) erhielt er den Ben-Witter-Preis, mit dem Autorinnen und Autoren geehrt werden, die durch einen unkonventionellen Blick auf die Welt mit ungewöhnlichen literarischen oder journalistischen Formen experimentieren und gesellschaftskritischen Humor zeigen. (Zur Trilogie gehören: „Еin Stück Malheur“, „Der Junior“ und „Plötzlich ging alles ganz schnell“.)
„Gronius entstammt dem Berliner Arbeitermilieu“, heißt es bei Wikipedia. Er studiert in Berlin Theaterwissenschaft, Germanistik, Ethnologie und Religionswissenschaft, promoviert 1983 über „Кafka im Theater“. Arbeitet von 1979 bis 1982 als Dramaturg an der Schaubühne Berlin, ist dann als Dramaturg und Regisseur tätig am Burgtheater in Wien, an der Freien Volksbühne und den Staatlichen Schauspielbühnen in Berlin und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Er wohnt ab 1994 in Hannover und veröffentlicht in dieser Zeit seine beiden ersten Romane.
Im Sommer 2006 siedelt Gronius, inzwischen freier Schriftsteller, nach Saarbrücken über, der Liebe wegen. In der Folge veröffentlicht er auch in saarländischen Verlagen und in der Saarbrücker Literaturzeitschrift „Streckenläufer“ und tritt immer wieder als unterhaltsamer Rezitator eigener Werke auf. Er engagiert sich im Künstlerhaus und im Schriftstellerverband und in der Redaktion der „Saarbrücker Hefte“. Anlässlich seines Gedichtbandes „Traumwohnungen & Götter“ schreibt Christoph Schreiner in der „Saarbrücker Zeitung“: „Gedichte sind für Gronius erkennbar Gebrauchstexte. Nichts, was für die Ewigkeit halten müsste. Um so leichtfüßiger kommen sie daher.“
ZITAT
2017 erscheint im Saarbrücker PoCul-Verlag ein Band mit 20 Prosatexten von Jörg W. Gronius. Der Titel „Daheim und wieder da draußen“ erinnert an ein Buch von Johanna Spyri, das ein frühes Leseerlebnis des Autors war. In seinen von eigenem Erleben inspirierten, gelegentlich aber über die Wirklichkeit hinausschießenden kleinen Erzählungen umkreist Gronius immer wieder das Thema Heimat, ohne es ideologisch aufzuladen. Von sich sagt er: „Gewohnt, gelebt, gearbeitet habe ich schon an vielen Orten. Daheim war ich bisher nirgendwo. Und sicher werde ich eines Tages auch diesen Ort, diese Gegend, diese Region, in der ich jetzt bin, verlassen.“ Aber solange er hier wohnt, erkundet er seine derzeitige Heimat gründlich. Er weiß: „Wer schon immer war, wo er heute ist, kennt seinen Ort am wenigstens. Wer aber ankommt, möglichst von fern, sieht mit dem Blick der Neugier. Wer ankommt, findet vieles, was die anderen, die immer schon da waren, nicht mal vermissen.“
Ebenfalls 2017 erscheinen im Hannoveraner Wehrhahn-Verlag 13 Kurzgeschichten unter dem Titel „Das Wunder Hannover“, 2018 im gleichen Verlag ein Band mit Gedichten, die auf Radio-Nachrichten aus dem Zeitraum zwischen Oktober 2017 bis Juni 2018 zurückgehen.
2021 legt Gronius, wieder im Saarbrücker PoCul-Verlag, das Buch „was war ist & sein wird“ vor. Zusammengehalten werden die hier versammelten sehr unterschiedlichen Textsorten von der durchgehend elegischen Grundstimmung und der Gattungsbezeichnung „Roman“. Es handelt sich um eine Abfolge von journalistisch-feuilletonistischen Texten mit zeitkritischer Tendenz, Unterhaltungen des Ich-Erzählers im Treppenhaus mit der nie anders als „die schöne Frau Schwarz“ apostrophierten Wohnungsnachbarin, offenbar autobiographisch fundierten, teilweise zugespitzten Erinnerungen, Fantasy-ähnlichen Erzählstücken, assoziativen Satzreihungen und dem eingeschobenen (natürlich vom Verfasser erdichteten) 140 Seiten umfassenden Tagebuch eines Bibliothekars und Borges-Fans, der wahnhaft die Auflösung seiner Bibliothek protokolliert.
Der Ich-Erzähler hat die deutsche Wiedervereinigung als persönliche Katastrophe erlebt: „Die Opfer im Westen wurden nicht erwähnt. Es waren zu wenige. Einer war ich.“ Durch die Neustrukturierung der Theater in Berlin verliert er – wie der Autor – seinen Job und muss die Stadt Richtung Hannover verlassen. Es bleibt die Abneigung gegen alles, was aus dem Osten kommt, und gegen das zeitgenössische Theater: „Das Theater, das ich gelernt hatte und fortführen wollte, war abgeschafft zugunsten von pornographischen Brüllorgien.“
Die pessimistischen Rück- und Ausblicke des alten Mannes werden aufgehellt durch die Erinnerungen an seine erotischen Abenteuer: „Der Slip und der Kleidsaum rahmten ihren üppigen, runden Po mit Pfirsichhaut wie Geschenkpapier.“ Die anekdotenhaft wiederkehrenden Plaudereien im Treppenhaus bieten Gelegenheit, auch mal schlichtere politische Ansichten zu Wort kommen zu lassen.
Parallel zum Tagesgeschehen von Trump über China bis zum Klimawandel wächst sich die persönliche Betroffenheit des Ich-Erzählers aus zum ausschweifenden Klagegesang „über die Zustände der Welt, die jeden normalen Menschen überfordern“.
2023 reagiert Jörg W. Gronius mit Lyrik auf aktuelle Bedrohungen wie die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg. In dem Band „Pandämonie“ (Wortschöpfung aus „Pandemie“ und „Pandämonium“) nimmt den größten Teil das Kapitel „Daten & Fakten“ ein, in dem der Autor mit insgesamt 51 ungereimten Zehnzeilern, datiert vom 22. März bis zum 7. September 2020, Stichworte aus der Anfangszeit der Pandemie aufgreift und sie sprachlich umtanzt: die soziale Isolation („Haft in den Stuben“), die Versorgungsengpässe („Rossmann ohne Papier“), die Angst vor der Infektion („Kein Handschlag/der deutsche Gruß ist am sichersten“). Bei allem Sarkasmus bleibt doch die persönliche Betroffenheit spürbar, zumal die aktuelle Situation sich abspielt vor dem noch bedrohlicheren Hintergrund der globalen Klimakatastrophe: „die Natur fragt nicht nach dem/Menschen nur der Mensch nach den Fahrbahnen“. Überhöht wird die Endzeitbeschwörung durch zitathafte Bezüge aufs Alte Testament mit all den Plagen, die ein strafender Gott der Menschheit sendet.
Die weiteren Kapitel greifen Ereignisse bis ins Jahr 2022 auf, wo sich das Spektrum der Plagen um den Ukraine-Krieg erweitert hat. Kapitel-Überschriften wie „Abgesang“ oder „Finale“ stimmen auch hier auf Apokalypse ein. Aber nun gesellt sich zu den allgemeinen Menschheitsbedrohungen noch das private Hadern mit dem Alter, die Furcht vor Sterben und Tod. All das ist für Gronius gleichzeitig düstere Realität und sprachliches Spielmaterial. Und so entsteht ein Schwebezustand zwischen tiefstem Ernst und spielerischem Unernst, der die Besonderheit dieser lyrischen Selbstgespräche ausmacht. (RP)