John Henry Mackay

Zeichnung Mackay  geb. 6. Febr. 1864 in Greenock (Schottland), gest. 16. Mai 1933 in Berlin

Für den anarchistischen Schriftsteller John Henry Mackay, der in Saarbrücken aufgewachsen ist, war dies eine Stadt, in der es grässlich ist zu leben und zu sterben.

Mackays äußere Biographie ist nur lückenhaft bekannt. Selbst Karl Färber, der bereits 1922 eine Dissertation über ihn schreibt und der Lebensgefährten befragt und in schriftlichem Kontakt mit Mackay steht, kann nicht alle Fragen klären. Das gilt insbesondere für dessen Saarbrücker Zeit. Mackay selber war mit Auskünften äußerst zurückhaltend, auch seine autobiographische Schrift mit dem Titel „Abrechnung“ hilft da kaum weiter.

So viel steht fest: Geboren ist John Henry Mackay in einer Stadt ca. 40 km entfernt von Glasgow, der Vater John Farquhar Mackay ist Schotte und arbeitet als Assekuranzmakler in Schiffen, die Mutter Luise, geb. Ehlers, ist Deutsche und stammt aus einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie. Nach dem frühen Tod des Vaters kehrt die Mutter mit dem noch nicht 2-jährigen John Henry nach Deutschland zurück. „Ich habe also sprechen – meine ‚Muttersprache‘ – in Deutschland gelernt (englisch erst später)“, schreibt Mackay. Seine Werke verfasst er in Deutsch.

Die Mutter heiratet in Saarbrücken einen preußischen Beamten, den Bergrat Alfred Dumreicher aus Pinneberg. Da diese Eheschließung etwa 1873 erfolgte, wird oft davon ausgegangen, dass John Henry Mackay erst ab seinem zehnten Lebensjahr in Saarbrücken wohnt. Anderen Angaben zufolge hat er bereits seine frühe Kindheit in Saarbrücken verbracht. Karl Färber vermutet, dass die Mutter schon vor ihrer Eheschließung in Saarbrücken wohnte, ein Datum oder einen biographischen Bezug der Mutter zu der Stadt vermag er allerdings nicht anzugeben. Mit 15 verlässt Mackay Saarbrücken, um das Gymnasium in Burgsteinfurt (heute Regierungsbezirk Münster) zu besuchen und von da an nur noch besuchsweise ins Saarland zurückzukehren. Ab 1894 lebt er in Berlin. Als Mackay im Mai 1933 stirbt, wird eine Selbsttötung durch eine Überdosis Morphium nicht ausgeschlossen.

Früher Erfolg, später vergessen

Zu seiner beruflichen Laufbahn schreibt Mackay: „Nach einem vergeblichen Versuch (in Stuttgart) mein Leben in die ehrbaren Geleise einer Verlagsbuchhändler-Existenz zu lenken, habe ich in Kiel, Leipzig und Berlin studiert: Kunstgeschichte und ‚ein wenig‘ Philosophie.“ Fazit gegen Ende seines Lebens: „Ich habe auf der Schule so gut wie nichts gelernt und auch von den Universitäten, als Hörer, wenig genug für mein Leben mitgenommen. […] wenn ich Geschichtszahlen und dergleichen Kram brauche, schlage ich nach. Wozu das in meinem Gehirn aufspeichern?“ Mackay hat nie ein Examen gemacht.

Da Mackay von Hause aus vermögend ist, kann er sich schon früh ganz seinen literarischen Interessen widmen; erst die Inflation der frühen 1920er Jahre bringt ihn um sein ererbtes Geldvermögen. Ab 1885 tritt er mit Veröffentlichungen hervor. Er schreibt Erzählungen, Romane, Theaterstücke, Gedichte; Richard Strauss und Max Reger haben Texte von Mackay vertont. Mackay gilt als Vertreter des Naturalismus in der Literatur und ist zu seiner Zeit relativ erfolgreich und anerkannt. Am Ende seines Lebens aber leidet er darunter, verkannt und vergessen zu sein.

Heute findet sich sein Name weniger in Literaturgeschichten als in Darstellungen der Geschichte des Anarchismus. Sein erfolgreichstes Buch mit zu seinen Lebzeiten über 20.000 verkauften Exemplaren ist „Die Anarchisten“ (1891). Der von ihm propagierte individualistische (im Gegensatz zum kollektivistischen) Anarchismus in Anlehnung an den amerikanischen Anarchisten Benjamin R. Tucker (1854 bis 1939) ist eine radikale Form des Liberalismus. Einen großen Teil seines Schaffens verwendet Mackay auf die Erforschung und Verbreitung des Werkes von Max Stirner (1806 bis 1856), Vertreter des so genannten Ethischen Egoismus, dessen Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ (1844) ist.

Selbst homosexuell-päderastisch veranlagt, widmet Mackay unter dem Pseudonym Sagitta mehrere Schriften der „namenlosen“ oder „griechischen“ Liebe zwischen erwachsenen Männern und heranwachsenden Knaben.

Wiederkehr nach Saarbrücken

Ein frühes literarisches Werk von Mackay ist „Die Menschen der Ehe“. Der Untertitel lautet: „Schilderungen aus der kleinen Stadt“, aber es sind keine Impressionen, sondern es gibt eine fortlaufende Handlung, man könnte das in der Originalausgabe 92 Seiten schmale Werk als Erzählung bezeichnen.

„Die Menschen der Ehe“, erschienen 1892 bei S. Fischer, enthält deutliche persönliche, total negativen Reminiszenzen an Saarbrücken. Wobei Saarbrücken hier exemplarisch steht für alles, was Mackay am modernen Leben ablehnt: den Kapitalismus, die Verbürgerlichung, die mangelnde individuelle Unabhängigkeit.

Der Protagonist Franz Grach hat Saarbrücken „seit länger als zehn Jahren nicht gesehen“. Wenn man eine Parallelität zur Biografie des Autors unterstellt, der die Stadt 1879 verlassen hat, kommt man für die Handlung der Erzählung auf einen Zeitraum um 1890; das würde auch zu den historischen Anspielungen in dem Buch passen.

Franz Grach kehrt in seine Heimatstadt zurück, nachdem ihn ein Brief seiner Stiefschwester erreicht hat: Sie könne es in ihrer Ehe nicht mehr aushalten und erwarte Rettung von ihm als dem Verfasser eines freisinnigen Buches über die Ehe. Als Jüngling war Franz eine Zeitlang in die Stiefschwester verliebt, einmal ließ er sich von der Leidenschaft fast hinreißen – bis ihn plötzlich ein für ihn selbst unerklärlicher körperlicher Widerwille erfasste. Die erwachsene Clara ist immer noch „eine junge Frau von außergewöhnlicher Schönheit“, allerdings „geistig um keinen Schritt weitergerückt“. Franz erläutert ihr, was er unter den „Menschen der Ehe“ versteht, wie er sie in seinem Buch genannt hat: „Menschen der Enge im Gegensatz zu den Menschen der Weite; […] Menschen der kleinen Zufriedenheit, […] Menschen der Stagnation, nicht Menschen der Bewegung; Nummern, aber Nummern, welche zu Zahlen werden, und welche ich daher hasse!“ Zu seiner Enttäuschung stellt Franz fest, dass auch Clara zu den „Menschen der Ehe“ gehört, sie ist nicht bereit, einen radikalen Schnitt zu tun und sich von ihrem Mann zu trennen.

Kurz bevor Franz die Stadt wieder verlässt, begegnet er Dora Syk. Er kennt sie von früher, ein nicht näher bezeichnetes „Werk“ von ihr hat einst Aufsehen erregt, jetzt unterrichtet sie in Saarbrücken an einer Schule für höhere Töchter. Sie ist das ideale Gegenbild zu Clara Boehmer. Färber nimmt an, dass Mackays Mutter Vorbild für die Figur der Dora Syk ist. Da es für Dora Syk „keinen Mann gab, den sie im Stillen seines Mutes und seiner unerschütterlichen Energie wegen so bewunderte wie ihn“, macht er ihr spontan einen Antrag: „Sollten wir nicht einmal versuchen, zusammen glücklich zu sein?“ Unter der Bedingung, dass er ihre Unabhängigkeit respektiert, sagt sie ja und bricht mit ihm zusammen noch am gleichen Abend nach Paris auf.

Die Handlung lässt sich ziemlich gut verorten. Die Hauptschauplätze liegen rund ums Saarbrücker Schloss, also ganz in der Nähe von Mackays Saarbrücker Wohnort in der Pestelstraße. Auch Franz, der Protagonist seiner Erzählung, ist die Wege hier „zahllose Male als Kind und als Knabe im Spiele gelaufen“.

Zur Wohnung von Clara Boehmer steigt Franz „den steilen Weg hinauf, an der alten, düsteren Kirche“ (der Schlosskirche) vorbei. Er gelangt „zu dem weiten, totenstille Platze“ (dem Schlossplatz). Dort steht das – von Mackay in Anführungszeichen gesetzte – „‘Schloss‘, ein massives, altes Gebäude mit vielen Anbauten aus neuerer Zeit“. Es ist an Familien vermietet, „an die reichsten der ‚Alldahiesigen‘ und ‚Hiesigen‘, welche keine eigenen Häuser besaßen“. Seine Jugendfreundin wohnt irgendwo in einem nicht näher bezeichneten Haus am Schlossplatz oder in unmittelbarer Nachbarschaft, der Garten ist terrassenförmig angelegt, befindet sich also am Südhang des Trillerhügels.

Während die Umgebung von Clara Boehmer durchgehend negativ charakterisiert ist, wird die Gartenwirtschaft, die Franz mit der von ihm verehrten Dora Syk besucht, in den schönsten Farben gemalt: „Keine Großstadt besaß einen größeren, in seiner rauhen und nie gepflegten Wildheit schöneren Garten.“ Dora Syk pflegt hier ihre Nachmittage zu verbringen. „‘Das ist herrlich!‘, rief er. Sie lächelte. ‚Ja, es ist herrlich!‘ sagte sie auch.“

Die Gartenwirtschaft liegt ganz oben am Hang oberhalb des Schlosses. Tische und Stühle sind „überall auf die ansteigenden Terrassen gestellt“. Bei schlechtem Wetter bietet „eine große Halle“, die „roh aus Holz gezimmert“ ist, den Gästen einen geschützten Aufenthalt. Bei der Lokalität handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um das ehemalige Jakobsgärtchen, an das heute noch der Name einer Treppe am Triller erinnert. Statt einer „großen Halle“ sieht man auf alten Fotografien allerdings einen nach den Seiten offenen Pavillon.

Blick von der Treppe am Jacobs Gärtchen

Weniger genau zu ermitteln ist das Hotel, in dem Franz absteigt. Das – früher tatsächlich in Bahnhofsnähe stehende – Hotel „Zur alten Post“, in das er eigentlich gehen will, ist, wie Franz erfährt, „seit sechs Jahren eingegangen“. Ein Hausdiener verweist ihn am Ausgang des Bahnhofs stattdessen auf ein Hotel „dort unten“, das „ganz neu eingerichtet“ ist. Mehrere Hotels kämen dafür in Betracht.

Das Restaurant, in dem Franz Grach vor seiner Abreise zu Abend isst, wird ausdrücklich genannt: „Das Krokodil“ in der „Hauptstraße“, also der Bahnhofstraße. Hier verkehren die „Gewaltigen“, „die größten Männer der Stadt, weise im Rat und vorsichtig in der Tat“.

Für den „breiten“ Dialekt der Einheimischen gibt er folgendes Beispiel: „Wart‘ nur, ich sahns abber meinem Vatter!“

Grässlich, hier zu leben oder zu sterben

Die Stadt Saarbrücken und ihre Bewohner werden von Mackay total negativ dargestellt. „Der Dunst der brennenden Kohle“ liegt „wie ein dünner Schleier“ über den Straßen und verhüllt wie in Mitleid „die reizlosen Züge“ der Stadt, die „ein träger, gelber Fluss“ durchfließt. Ein Mensch wie Dora Syk muss leiden „zwischen den Dunstwolken dieses ärmlichen Tales, dem Rauche der Feuerherde dieser erbärmlichen Stadt, der Stickluft einer ungelüfteten Schulstube“. Am Schlossplatz stört „die leere Öde dieses weiten Raumes“.

Zwischen Mackays/Grachs Weggang aus Saarbrücken und der Wiederkehr liegt eine Epoche des stürmischen Wandels der Stadt, der sich besonders an der Bahnhofstraße ablesen lässt, wie → Ralph Schock es in einem Aufsatz über das „Schaufenster des Landes“ dargestellt hat. Bei Mackay heißt es missbilligend: „Die neuentstandenen Häuser zeigten das Bestreben, Schritt zu halten mit modernem Stil. Gesimse und Balkone hingen überall an ihnen herum, und in ihren Erdgeschossen waren Läden und Bierhallen entstanden mit hohen Fensterscheiben und lauten Aushängeschildern, die mit dem leuchtenden Gold ihrer Lettern die armen, verblassten und altertümlichen Inschriften der alten Firmen verdrängten… […] In erschreckender Menge hatten sich die offenen Geschäfte in diesen paar Jahren vermehrt. Gleich aber war der trostlose, nüchterne Eindruck dieser Straße geblieben, und vom Morgen bis zur Dämmerung glich sie noch immer in ihrem reizlosen, staubigen Grau einem alternden, ungekämmten und ungewaschenen Weibe.“

Nicht besser als die Stadt sind die Menschen, die hier wohnen. Die ortsansässigen Großhändler haben der Stadt „den Stempel eines souveränen, starren, fortschrittsfeindlichen Willens“ aufgedrückt. „Von geistigen Bedürfnissen verspürte man hier noch nichts.“ Zu Dora Syk sagt Franz Grach: „Aber zwischen diesen Mumien und Geldsäcken, in diesem stagnierenden Haufen müssen Sie ja kurz oder lang ersticken!“ Die Menschen hier lesen nichts „als Zeitungen und die ihrer Lettern die keinen Konzertsaal. Es herrscht die Moral der Bourgeoisie, „diese satte, selbstgefällige, verächtliche Moral“. „Er hasste sie, diese Menschen“ in dieser Stadt, und er fand, „es müsste grässlich sein, in ihr zu leben und zu sterben“.

Dass der Untertitel der Erzählung nicht lautet: „Schilderungen aus einer“, also einer bestimmten, sondern „aus der kleinen Stadt“, deutet daraufhin, dass Saarbrücken hier exemplarisch für einen bestimmten Typ von Stadt steht. Die großen Städte, Paris, Rom, Berlin mit ihren größeren Freiheiten hat Mackay geliebt.

„Die Menschen der Ehe“ wurde offenbar vom Autor im Nachhinein nicht besonders geschätzt. In seine 8-bändigen „Gesammelten Werke“ von 1911 hat er die Erzählung noch aufgenommen. Aber den strengeren Maßstäben für die 1928 erschienenen „Werke in einem Band“ hat sie nicht genügt. Im Anhang wird „Die Menschen der Ehe“ zu jenen nicht in die Auswahl aufgenommenen Texten gezählt, die „als ausgesprochene Propagandaschriften von selbst ihren abseitigen Platz einnehmen“. Später, in seiner „Abrechnung“, bezeichnet er „Die Menschen der Ehe“ als „kleinen Seitensprung“ nach der Veröffentlichung von „Die Anarchisten“ und als eine „Enttäuschung“: „Man hatte – warum weiß ich nicht – dickleibige Erörterungen über das Problem der Ehe erwartet.“ Alles, was er gewollt habe: „an einem Beispiel zeigen, um wie viel schöner und reiner die – damals noch! – so vielgeschmähte ‚freie Liebe‘ war, als das – auch heute noch! – so heilig verteidigte Institut der Ehe“.

Mackays amerikanischer Biograph Thomas A. Riley sieht in der „boasting attitude“ (prahlerischen Haltung) der frühen Werke wie “Menschen der Ehe“ „much of the bad boy’s pleasure in being bad” (viel von der Lust des bösen Buben am Bösesein).

Publizistisches Weiterleben

Um das publizistische Weiterleben des Autors kümmert sich die Mackay-Gesellschaft, die bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder Neuauflagen seiner Werke herausgebracht hat. Sie wird 1931 gegründet, um finanzielle Unterstützung für Mackay zu organisieren, aber Mackay will diese Hilfe nicht annehmen; die Gesellschaft erlischt 1933. 1974 gründet der ursprüngliche Initiator Kurt Zube die Mackay-Gesellschaft neu. Treuhänder ist von 1977 bis 1984 der Schriftsteller Uwe Timm.

Von 1994 bis 2013 gibt die Mackay-Gesellschaft vierteljährlich die Zeitschrift „Espero: Forum für libertäre Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung“ heraus. Im Januar 2020 erscheint die Nullnummer von „espero – Neue Folge“. Im Juni 2020 veröffentlicht der Potsdamer Libertad Verlag eine erste Online-Ausgabe der Zeitschrift. (RP)