geb. 9. Juni 1932 in St. Ingbert, gest. 22. Okt. 2015 in Bruchmühlbach-Miesau
Foto Bezirksverband Pfalz
Heinrich Kraus beherrschte virtuos die Klaviatur der rheinfränkischen Mundart und verschaffte ihr in allen literarischen Gattungen Respekt.
Als Sohn eines Metallarbeiters und einer Näherin in St. Ingbert geboren, waren Kindheit und Jugendzeit von Heinrich Kraus geprägt durch die Kriegsjahre und die Not der Nachkriegszeit. Trotz Problemen schloss er die Handelsschule ab. Eine Reise nach Frankreich, die er danach unternahm, eröffnete ihm völlig neue Horizonte. Dem Einsatz bei der Weinlese in der Dordogne folgten in den frühen 1950er-Jahren längere Aufenthalte u.a. in Paris, Madrid, Rom und Pisa. Mit Gelegenheitsarbeiten finanzierte er sich intensive Sprachstudien, die er mit Diplomen abschloss, die ihm aber auch die Reize und Eigenheiten regionaler Sprache eröffneten.
Zurück in St. Ingbert, arbeitete er nach der Ausbildung zum Industriekaufmann als Exportsachbearbeiter bei einem Homburger Unternehmen. 1961 wurde schließlich ein erstes Gedicht von ihm veröffentlicht, freilich fernab seiner Heimat, in der Fuldaer Volkszeitung. Diese Distanz zur eigenen Region sollte viele Jahrzehnte die Rezeption wie auch das Selbstverständnis seiner Arbeit prägen, lange blieb ihm Anerkennung versagt. Erst spät stieß Kraus nicht mehr auf Ablehnung, Unverständnis und Ignoranz. Immer wieder machte er dieses Verhältnis auch zum Thema seiner Gedichte und Prosatexte.
1964 ließ er sich mit seiner Familie im westpfälzischen Miesau nieder, wo er sich mit stetig wachsender Leidenschaft und in immer größerer Zurückgezogenheit seiner literarischen Produktion widmete. Ermutigt durch die intensive Zusammenarbeit mit mehreren Rundfunkstationen, wagte er 1980 den couragierten Schritt in die bescheidene Existenz des freien Schriftstellers. Seine Intention war es stets, die herausragende Bedeutung der Mundart in den unterschiedlichen Gattungen seiner Literatur hervorzuheben. „Soll e anneri Sprooch dann meh wie unseri gelle …?“, fragte er rhetorisch und machte damit deutlich, welchen Stellenwert er der Mundart auch als Literatursprache beimaß. ZITAT
Zitat von Kraus Heinrich
Mundartdichter
Mei Sprooch wachst wild; do gibt’s kän richter Pad
wo annere getrambelt han for mich.
Kuraasch, Geduld: Ma laaft durch Dorngebisch
un käner hebt die Lascht, die wo ma traht.
Mei Stimm isch leijs. Wer heert, was äner saht?
Do driwwe, in de Herd, do werd gekrisch,
do werd geplätscht und angeb. Awer ich
kann froh sin, wenn ma mich nit uuzt, nit schlaht.
Mei Sinn blejbt fescht. Ich gehn mei eijner Wäh
und schrejb so, wie ich schwätze … vochelfrej.
Paßt sich a jeder an, ich bleib mir trej.
Mei Ziel glänzt hell. Un komm ich a nie hin,
egal, ich bin sefriede, wenn ich’s siehn;
an annrem Brulljes isch mir nix geläh.
aus: Arwes macht mied, Bruchmühlbach-Miesau, o.J.
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In der Folge setzte Heinrich Kraus eben in der Mundartliteratur neue Maßstäbe – mit schier unerschöpflichem Einfallsreichtum, mit hinreißender Sprachkunst und berührender Sensibilität. Nachgerade das Markenzeichen seiner Literatur war seine Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Lebens, die er – nie ohne auch die Sonnenseiten zu erwähnen – zum Thema machte, in virtuoser Sprache, ausdrucksstark, geistvoll, wortverspielt, sprachverliebt, selbstironisch. Dabei blieb er seinem Stil treu, „zwar volkstümlich, aber nie volkstümelnd“ zu schreiben – so Heinz Weinkauf. Der Freiburger Dialektologe Rudolf Post attestierte ihm, der „bedeutendste zeitgenössischen Mundartautor des pfälzischen, ja des deutschsprachigen Raumes“ zu sein.
Viele hundert Gedichte veröffentliche Heinrich Kraus, nicht nur in Periodika, sondern auch in nahezu 40 Lyrikbänden. Dazu kommt ein breites episches Werk mit Romanen, Novellen, Erzählungen und Essays. Auch Kinderbücher verfasste Heinrich Kraus – „Sigi Wulle“ heißt der Lausbubenheld der vier Bände, die sogar ins Japanische und Chinesische übersetzt wurden. Zudem schrieb er unermüdlich für Radiosender – Hörspiele, Sketche, Erzählungen, Schulfunksendungen und sogar einen Funkroman, der in 40 Folgen ausgestrahlt wurde. Vom ZDF wurde sein Fernsehspiel „Die Buddik“ ausgestrahlt, im Pfalztheater Kaiserslautern wurde seine Mundart-Oper „Lauter laute Lauterer oder die Spatzenplage“ uraufgeführt, für die er das Libretto geliefert hatte.
Selbst religiöse Sujets behandelte er in Mundart. Das lebhafte Echo auf sein Buch „Unser Babbe drowwe im Himmel“, das insgesamt sieben Auflagen erfuhr, dokumentiert, dass er mit dieser Bearbeitungsvariante biblischer und kirchlicher Themen quasi offene Türen einrannte.
Dass er auch qualitativ hochwertige Texte in der Hochsprache geschaffen hat, sollte nicht vergessen werden: Sein erster Roman „Staub“ erschien 1967 in Wien. In späteren in Hochsprache verfassten Texten spielt Heinrich Kraus meisterhaft mit Mundartfragmenten. Wörter und Sprachgewohnheiten, die eigentlich nur im Dialekt wirken, „verhochdeutschte“ er und evozierte auf diese Weise ungeheuer komische Effekte. ZITAT
Zitat von Heinrich Kraus
Auf der Hochzeit in Heckendalheim
[…] Es wurden ein paar Witze erzählt. Wir mussten noch nicht so laut lachen wie die liebe Verwandtschaft, da wir noch nicht so viel getrunken hatten; aber die Onkel klatschten sich auf die Schenkel vor Lustigkeit, und die Tanten krischen in hellen Tönen vor Vergnügen, bis dann Onkel August einen zu erzählen anfing. Doch Tante Agathe fuhr ihm gleich in die Parade und fragte, ob er mal wieder den Vogel abschießen wolle mit seiner Schweinerei. Da wollte er aufhören, indem sie ihn ganz streng musterte. Aber die andern wollten den Witz nun erst recht hören, weshalb er ein paar Mal anfing und ein paar Mal unterbrochen wurde, bis er zuletzt arg beleidigt war und einen Krug Bier in einem Zug leerte, um so seine Gattin zu strafen. Dann kam der Kaffee, und es gab viele Sorten Kuchen dazu. Ich aß von jeder Sorte: Streusel-, Kranz-, Gesundheits-, Marmor-, Apfelmus-, und Käsekuchen und nachher noch Bienenstich, Frankfurter Kranz sowie Buttercremetorte. Alle staunten über meinen Appetit, und Onkel August sagte: Wenn er in allem eine solche Begabung zeigt, dann tut noch etwas aus ihm werden. Da lachten sie und am meisten die stämmige Verwandtschaft der Braut, von denen manche die Mäuler so weit aufrissen, dass man die Plomben an ihren Zähnen sah. Nur Irmchen lachte nicht so laut, sondern lächelte mich freundlich an. Sie war nicht übel und auch nicht so breit. Ihr rundes Gesichtchen war hübsch und mit zwei roten Bäckchen und braunen Äuglein versehen, und es war von pechschwarzen Locken umgeben.
Ich zwinkerte ihr zu, worauf sie noch ein bisschen roter wurde, so dass sie wie eine Rose aussah in ihrem rosanen Kleid. Aber zuerst wollte ich von jedem Kuchen probieren, damit sich der weite Weg nach Heckendalheim lohnte. Dann musste sich Erika wieder die Ziehharmonika umschnallen, obwohl sie keine Lust mehr hatte, und ihre Musik klimpern, zu welcher Onkel Michel wieder sehr laut sang, und weil geschunkelt werden sollte, mussten wir enger zusammenrücken, so dass Irmchen neben mir hockte und ihren Arm durch den meinen schob.
Dann ging‘s mit allen Kräften los: herüber, hinüber, herüber, hinüber. Dazu sangen wir so laut, wie es ging: Sabinchen war ein Frauenzimmer, dabei so tugendhaft… Und der Onkel Michel tat so, als ob er dirigieren täte, und wackelte dabei immer mehr und jodelte manchmal dazwischen. Es war arg lustig, und es wurde viel gelacht. Auch Irmchen lachte mich an mit ihrem roten Mund, in dem viele Zähne wie Perlen blitzten, so dass man Lust bekam, auch davon zu probieren. Wenn die dicksten Tanten einen Schnaufer kriegten von der Anstrengung, wurde eine Pause gemacht.
Da sagte ich Irmchen, dass es mir gut gefällt in Heckdalheim, und ich hätte nicht gedacht, dass man hier so lustig sein kann. Sie lächelte und sagte, es sei erst der Anfang der Lustigkeit, und am Abend täte es noch lustiger werden. Da sagte ich, dass auch sie mir gut gefällt, und sie sagte: Danke dito! Nachher wurde wieder geschunkelt, diesmal auf die Waldeslust, welche noch lauter gesungen wurde, damit jeder im Dorf hören könnte, welch eine fröhliche Hochzeitsgesellschaft zusammengekommen wäre, und der Erich strahlte mit seinem dummen Gesicht, weil er eine so kräftige Braut gekriegt hatte, die ihn beim Schunkeln bis zu ihrem Busen herabzog, damit er einen Vorgeschmack bekäme von seinen Freuden.
Gibt es hier einen Wald? fragte ich Irmchen.
Sogar einen schönen, sagte sie.
Tust du ihn mir mal zeigen?
Vielleicht, sagte sie.
Dann hieß es, man solle sich ein bisschen die Füße vertreten, indem man den Tisch decken wolle für das Abendessen. Ich fragte Irmchen noch einmal, ob sie mir den Wald zeigen täte. Da sagte sie, dass sie mit ihrem Kusin vorausgehen möchte, und ich könnte mit meiner Kusine Erika folgen bis zu den ersten Bäumen und dort die Kusine gegen sie tauschen. So haben wir es gemacht, denn die Erika hatte auch ein bisschen Spaß an dem Paul, weil er so kräftig gebaut war.
So schritten wir durch das Dorf, und ich hatte meinen besten Anzug an, so dass die Leute, die in der Dämmerung vor den Häusern hockten, gleich merkten, dass wir zur Hochzeit gehörten. Ich redete mit meiner Kusine Erika, welche ich gut leiden mochte, so wie sie mich, über das schöne Fest. Sie sagte, dass sie genug von der verdammten Ziehharmonika habe und froh wäre, wenn sie kaputt ginge. Da sagte ich, dass ich es probieren wolle, sie kaputt zu machen, indem ich versehentlich daranstoße und sie vom Tisch herunterfällt. Sie lachte und sagte, ihr wäre es recht, aber vielleicht dem Onkel Michel nicht, welcher arg grob werden kann, wenn er zu viel getrunken hat.
Am Waldesrand warteten die anderen. Dort tauschten wir. Der Paul legte seinen Arm um meine Kusine, und da legte ich meinen auch um Irmchen. Es herrschte eine Dämmerung unter den Bäumen, auf denen viele Vögel hockten und fröhlich zwitscherten, und es roch nach Blumen und frischem Laub. Ich fragte Irmchen, ob sie den Gesang der Tiere hören täte, und sie sagte: Ja, sie pfeifen herrlich! So schritten wir über einen Weg, wobei mein Herz fest in meiner Brust schlug. Gern hätte ich ihr einen Kuss gegeben; doch ich dachte, es wäre besser zu warten, bis der Paul meiner Kusine einen gegeben hätte, und es dann zu probieren.
Der Paul führte uns zu einer Bank, welche zwischen lauter Gestrüpp stand. Erika sagte, dass hier eine romantische Stimmung herrschen täte mit dem Vogelgezwitscher über uns. Wir hockten uns, und ich legte wieder den Arm um Irmchen, welche ihren Kopf gegen meine Schulter neigte, so dass ich das Parfüm roch, dass sie ins schwarze Haar getan hatte. Als der Paul meine Kusine geküsst hatte, probierte ich es auch. Irmchen wehrte sich zwar ein bisschen, aber nur so viel, dass es mir doch gelang, ihr Mündchen zu finden, indem ein anständiges Mädchen so tun muss, als ob es keinen Kuss kriegen möchte, damit der Junge keinen Respekt vor ihm verliert.
So hockten wir eine Weile auf der Bank. Es wurde immer dunkler um uns herum. Ich sah Irmchen kaum noch, sondern fühlte sie mehr und sie war überall schön prall. Zuerst schlug sie mir auf die Finger, weil dies auch zu einem Anstand gehört, aber gar nicht fest, da sie vielleicht nicht wollte, dass ich es aufgäbe. Es war herrlich, und ich befand mich in einer Seligkeit von lauter Küssen und Streicheln, und die anderen wohl auch, indem sie in der Dunkelheit arg schnauften. Aber plötzlich knackte es hinter uns im Gestrüpp! Die Mädchen schrien und hopsten von der Bank und rannten davon, weshalb uns nichts anderes übrig blieb, als hinter ihnen herzurennen, bis sie an einer Brücke über einen Bach angelangt waren.
Da war einer! flüsterte Irmchen ängstlich.
Vielleicht bloß ein Rehbock, sagte Paul.
Ein Rehbock pirscht sich nicht an eine Bank heran, flüsterte meine Kusine Erika, sondern nur ein Mensch.
Eine Weile standen wir auf der Brücke. Es war nichts mehr zu hören als das Zwitschern der Vögel und das Plätschern des Wassers unter uns. Aber die Mädchen wollten nicht mehr zurück auf die Bank, sondern lieber zur Hochzeitsfeier. Deshalb schritten wir durch den Wald, welcher nun ganz schwarz und dunkel geworden war, so dass Irmchen ein bisschen Angst kriegte und sich fest an meinen Arm klammerte. Ich hatte zwar auch ein bisschen Angst; aber ich zeigte sie nicht, sondern pfiff die Waldeslust, um einen eventuellen Unhold zu zeigen, dass ich mich überhaupt nicht vor ihm fürchtete.
Am Waldesrand, wo es nicht mehr so arg finster war, tauschten wir wieder die Mädchen. An der Seite meiner Kusine Erika ging ich durch das Dorf zurück, wo gerade ein Glöcklein am Kirchturm bimmelte, und ein Stück hinter uns marschierte Irmchen mit ihrem Kusin Paul. Als wir am Festhaus ankamen, stand der Onkel Michel an der Tür mit einem Gesicht so sauer wie eine Essiggurke und Blicken so spitz wie Stopfnadeln. Mir wurde gleich heiß, weil ich dachte, daß er uns belauscht hatte und nun vielleicht meinte, dass ich Erika geküsst hätte, und eine Kusine küsst man doch nicht wegen der Inzucht, welche dadurch entstehen kann. […]
aus: Saarpfalz-Jahrbuch 2014
– Heinrich Kraus ist auf dem Friedhof von Miesau bestattet.
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Für sein literarisches Schaffen wurde Heinrich Kraus mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und dem Bundesverdienstkreuz am Bande bedacht. (MB)