Nora Haddada

geb. 14. Nov. 1998 in Neunkirchen / Saar

Foto: Martin Decouais

Sie kommt aus der saarländischen Provinz ins rauschende, brausende Berlin, mitten hinein in eine Kreativen-Szene, die die Welt bewegt. Scheinbar. Denn als Scheinwelt ist sie schnell zu entlarven. Und das ist der Stoff, aus dem ihr erster, viel gelobter Roman ist.

Haddada wächst in ihrem Geburtsort Neunkirchen auf, besucht dort die Grundschule und anschließend das Gymnasium am Steinwald (Abitur 2016). Beeindruckt davon, „wie stark Literatur die Wahrnehmung der Welt und des eigenen Lebens prägen und verändern kann, Perspektiven und Horizonte eröffnen kann“ (N.H. im Gespräch, April  2024), immatrikuliert sie sich für den Bachelor-Studiengang „Kreatives Schreiben“ an der Universität Hildesheim. Eingerichtet hat diesen Studiengang 1999 der Schriftsteller und Germanist Hanns-Josef Ortheil. Mit ihm kommt Haddada durch ihre Arbeit im Verlag des Literaturinstituts, der Edition Paechterhaus, in Kontakt; Ortheil betreut dieses studentisch organisierte Projekt auch noch kurz nachdem er seine Lehrtätigkeit eingestellt hat.

Während des Studiums geht Haddada als Stipendiatin nach Paris an die Sorbonne. 2019 sammelt sie praktische Erfahrung bei der Literarischen Agentur Petra Eggers in Berlin (heute Gaeb & Eggers, die auch die Autorin Nora Haddada vertritt). 2020 arbeitet sie in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit an der Deutschen Botschaft in Paris. Nach dem Bachelor-Abschluss in Hildesheim verbringt sie ein weiteres Jahr in Paris an der Ecole Normale Supérieure und arbeitet an ihrem Roman. Sie ist an der FU Berlin (Peter Szondi-Institut) für das Master-Studium „Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft“ eingeschrieben. In ihrer Abschlussarbeit beschäftigt sie sich mit der französisch-marokkanischen Autorin Leila Slimani.

Hildesheim eröffnet Studierenden wie der jungen Nora Haddada verschiedene Möglichkeiten, von der Teilnahme an Lesereihen („irgendwie 248 Sachen“) bis zur o.g. Arbeit im institutseigenen Verlag. Seit 2005 publiziert das Literaturinstitut jährlich eine Anthologie mit Texten seiner Studierenden: „Landpartie“. Das Heft wird traditionell im Rahmen der Leipziger Buchmesse auf Lesungen der Öffentlichkeit präsentiert. In der Ausgabe 2018, die von Haddada mit herausgegeben wird, findet sich ihr Prosastück „Chapeau“, eine – in ihren eigenen Worten – „ Gogoleske Erzählung über einen Maler in einer Schaffenskrise, der plötzlich einen alten Hut findet, für den er eine starke Obsession entwickelt und der ihn zu großen Kunstwerken inspiriert.“

Aus dem Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ geht 2001 auch das Magazin „Bella triste“ hervor. Es ist eine „deutschsprachige Literaturzeitschrift für junge Gegenwartsliteratur“. Zu den entdeckten und veröffentlichten Autoren gehören u.a. Daniel Kehlmann, Uwe Tellkamp, Bettina Wilpert und Judith Herrmann. In „Bella triste“ Nr. 64 von 2022 findet sich ein sehr früher Auszug aus Haddadas erstem Roman, „Nichts in den Pflanzen“.

Der Roman „Nichts in den Pflanzen“ erscheint im Herbst 2023 im Hamburger Ecco-Verlag (Verlagsgruppe Harper Collins Deutschland). Protagonistin Leila – jung, ehrgeizig und gewillt, Berlin im Sturm zu erobern – hat die ersten drei von fünf Akten eines Drehbuchs zu Papier gebracht, sofort eine Produktionsfirma für ihr kongeniales Werk gefunden, einen satten Vorschuss kassiert – und eine Schreibblockade erlitten. So ließe sich – stark verkürzt und bei weitem nicht angemessen – der Plot dieses Romans zusammenfassen. Seine Originalität liegt auch weniger in der Handlung, als in der genauen Beobachtung und Beschreibung des Milieus, der Menschen und ihrer Manierismen, in den Dialogen und damit verbundenen Definitionen menschlicher Bedürfnisse, Ängste und Erwartungen.

Das „Milieu“ kennt Haddada aus nächster Nähe. Sie hat selbst an Drehbüchern mitgearbeitet, war Produktionsassistentin bei einem Spielfilm. Als Autorin ist sie vertraut mit den Zwängen und Mechanismen des gesamten Kulturbetriebs. Leila ist gleich Nora? FAZ-Redakteurin Kira Kramer unterstellt ihr jedenfalls „Kokettieren mit der Autofiktionalität“ (FAZ vom 12.09.23). Haddada sieht in ihrem Text „keine Dokumentation des Filmmilieus; es geht um den emotionalen Konflikt der Hauptfigur;“ das Milieu scheint ihr „emblematisch für gesellschaftliche Dynamiken. Ich finde, dass da eine Sünde sichtbar wird, die man in vielen Teilen der Gesellschaft hat, die aber stark tabuisiert ist – das ist Neid.“

Neid, Missgunst, Liebe, Beziehung: „das ist etwas sehr Menschliches, sehr Altes.“ Die Protagonistin Leila (Haddada: „eine sehr destruktive Figur“) vergleicht sich mit ihrem Partner; sie kann dessen Erfolg nicht aushalten, „sie muss ihn sabotieren, damit ihre Arbeit gelingen kann.“ Es fällt schwer, diese Leila zu mögen. Oder die übrigen Vertreter dieser Szene, die immer gleichen Party-Gäste mit ihren immer gleichen sinnentleerten Monologen und selbstverliebten Phrasen; die Schörlchen-Fraktion, die hippen Post-Migra-Kids mit ihren urbanen Bedürfnissen…

Scott Fitzgeralds „Gatsby“ lässt grüßen, Bret Easton Ellis („American Psycho“) oder die Jeunesse Dorée aus Fellinis „La Dolce Vita“ von 1959 (Haddada: „Wenn’s an Fellini erinnert, dann hab‘ ich alles richtig gemacht“). „Nichts in den Pflanzen“ passt sich mühelos ein in diese illustre Reihe von Kritiken an der condition humaine.

pmk