geb. 4. Sept. 1923 in Homburg, gest. 25. Mai 2020 in London
Edith Aron ist eine in Homburg geborene, in der Nazizeit emigrierte Autorin, die lateinamerikanische Literatur ins Deutsche übersetzte.
Edith Aron, Tochter jüdischer Eltern, verbrachte ihre Kindheit in Homburg. Ihr Vater war der Kaufmann Sigmund Aron, ihre Mutter Elisabeth („Else“) geb. Wolf. In Homburg besuchte sie die jüdische Schule. Keine drei Wochen, nachdem sich das Saargebiet infolge der „Saarabstimmung“ vom 13. Januar 1935 an das nationalsozialistische Deutsche Reich angeschlossen hatte, emigrierte Edith Aron mit ihrer Mutter nach Buenos Aires / Argentinien. Die dafür ausgestellten Auswanderungsdokumente, die sich bei der Stadt Homburg erhalten haben, datieren auf den 18. März 1935. Edith Aron selbst berichtete aus ihrer Erinnerung heraus indes stets, dass die Emigration bereits 1934 erfolgt sei. Die Diskrepanz zwischen offiziellen und persönlichen Angaben ließ sich nicht aufschlüsseln. Der Vater blieb zunächst in Homburg und hielt sich während des Zweiten Weltkrieges in Südfrankreich auf.
Dem Besuch der Pestalozzi-Schule in der argentinischen Hauptstadt folgte Anfang der 1950er-Jahre der Umzug nach Paris, wo sie bald damit begann, Werke von Julio Cortazar ins Deutsche zu übersetzen. Den Schriftsteller hatte sie auf jenem Schiff persönlich kennengelernt, mit dem sie nach Europa reiste, um ihren Vater wiederzusehen. Zu dem 1914 in Brüssel geborenen Schriftsteller entwickelte sie eine intensive Beziehung. Cortázars „Rayuela“ gilt als einer der wichtigsten Romane Lateinamerikas. Die Hauptfigur Maga ist unverkennbar an Aron angelehnt.
In Paris lernt sie Paul Celan kennen. Mit Celans Frau, der Grafikerin Gisèle Celan-Lestrange, blieb sie bis zu deren Tod befreundet. Zu Beginn der 1960er-Jahre hielt sie sich in Westberlin auf, wo sie für den Hessischen Rundfunk insbesondere lateinamerikanische Literatur bearbeitete.
Edith Aron begann auch eigene Texte zu schreiben, vor allem Erzählungen, die auf ihrer Biografie aufbauen. Erfahrungen, Momente und Erinnerungen aus der Emigration, aber auch aus der Kindheit in Homburg sind in ihrer Literatur wiederzufinden. ZITAT
Zitat von Edith Aron
Die silberne Mickymaus-Nadel
Die winzige, kleine, silberne Mickymaus-Nadel, eine kleine Anstecknadel, war Anfang der dreißiger Jahre ein Geschenk von Frau Rosel Hirsch, der first lady des Vorstands der jüdischen Gemeinde in Homburg. Als Kinder gingen wir sie stets gern besuchen. Ihr Haus war irgendwie großzügiger als das unserer Eltern und kultivierter wahrscheinlich. Auch einen richtigen Koch hatte sie, mit einer großen, weißen, hohen Mütze. Und dann auch das faszinierende Majong-Spiel. Chinesische Domino-Bauklötzchen. Die Bilder davon haben sich unseren Augen für alle Zeiten eingeprägt. Und auch ihre Spielkarten. Sie waren hellrosa auf der Rückseite und hatten große, bunte Blumen. Ihr Neffe Rolf stammte aus Pforzheim, wo auch sie herkam. Er war der erste sogenannte „Bräutigam“ meiner Freundin Ellen. „Mein Mann ist verreist“, sagte sie, „er ist in Pforzheim, ich muß ihm noch ein Hemd nähen“, und alle lachten. Sie meinte es aber sehr ernst, die Ellen. Auch als sie mir zu Hause einmal Gras zu essen gab, denn sie war die Ärztin, die mir die Medizin verordnete. Ich glaube, ich habe mich danach übergeben müssen. Vier Mädchen waren wir in unserer Klasse: Doris, Ellen, Lotte und ich. Unsere Klasse in der jüdischen Schule. In einem Zimmer waren acht verschiedene Schuljahre untergebracht. In der ersten Klasse wir vier Mädchen, in der zweiten niemand, in der dritten Walter Levy, in der vierten sein Bruder, der Herbert Levy, in der fünften Fritz und Albert Wolf. Fritz hatte rosa Wangen. Er saß genau hinter mir, und ich mußte mich ständig umdrehen und ihn anschauen, so fasziniert war ich von seinen rosa Wangen. „Dreh dich um“, sagte er dann: „Jetzt dreh dich wieder um.“ Er und Albert waren Vettern. Beide Eltern hatten Schuhgeschäfte. Bei den Eltern von Fritz in der Deutschen Gasse kaufte meine Mutter mir Schuhe. Die hübschen braunen Halbschuhe mit Schnürsenkeln, manchmal auch mit einem feinen Lederband und einem Knöpfchen. Neben der Stadtverwaltung auf dem Marktplatz stand das Haus von Alberts und Kurts Eltern. Ihre Mutter, die immer im Schuhgeschäft arbeitete, hatte eine auffallend hellglänzende Stirn und dazu eine eher dunkelgelbliche Haut; sie trug gabardinefarbene Kittel, wenn sie Schuhe verkaufte. Ihr ältester Sohn Kurt besuchte bereits die Realschule und trug schon so eine schicke weiße Mütze mit Streifen. Er hat mir mal ein Buch geliehen. Neben ihrem Haus war eine kleine Gasse, da stand ein kleineres Haus und dann ein größeres, immer mit Blumentöpfen auf den Fenstersimsen. Darin wohnten nun verschiedene Familien, alle mit dem Namen Hirsch. (Es ist erstaunlich, wie viele Familien mit dem Namen Hirsch in Homburg wohnten!) Einer hatte einen Klumpfuß und ein anderer ein weiteres physisches Merkmal. Einer von ihnen lief später in Saarbrücken herum, mein Vater begrüßte ihn dort und trank manchmal eine Tasse Kaffee oder ein Glas Bier mit ihm, und ein anderer, der ausgewandert war, lief in Buenos Aires herum und kam manchmal zu uns, um meine Mutter zu besuchen.
Das letzte Haus, ein Eckhaus zur Bahnhofsstraße hin, war ein Handarbeitsgeschäft mit faszinierenden, farbigen Wollknäulen und Spitzendecken, bunten Bänderrollen, Druckknöpfen und Elfenbeinknöpfen, die alle im Schaufenster lagen. Schräg gegenüber aufwärts war die Eisenwarenhandlung Leinert und auch eine große Drogerie, vielleicht auch Apotheke, wo mein Vater die Wybert-Pastillen und vielleicht auch die Panflavin-Tabletten gekauft hat. Dort begann die Bergstraße. Ging man noch einige Schritte weiter hinauf, kam man auf der linken Seite zur Synagoge. Freitagsabends, samstagsvormittags und an den Feiertagen gingen wir dahin. Ellens Großvater, Herr Samuel, mein Lehrer, war gleichzeitig Vorbeter, so hielten es die kleinen Gemeinden in den Kleinstädten. Der Altar der Synagoge hatte diesen schwarzen Samtvorhang mit den goldenen, hebräischen Lettern. Oben an der Decke hing das ewige Licht, das rot glühte. Rechts und links davon standen hohe Zimmerpalmen oder ähnliche Pflanzen mit dünnen, schmalen, langen Blättern. Die Herren standen unten und die Damen und die Mädchen oben. Wenn an den Feiertagen die Thora ausgehoben wurde und in Weiß und Silber und Gold von oben zu sehen war, so war das immer ein Fest für das Auge und das Herz. Meine Mutter sang im Chor mit, doch wer das Harmonium – denn es war keine Orgel – zog oder spielte, weiß ich nicht mehr, denn Lehrer Samuel konnte ja nicht gleichzeitig alles machen. An den Feiertagen aß ich meistens bei der Ellen Salmon. Sie wohnte in der Bahnhofsstraße, und im selben Haus, wo sie wohnte, war auch das Geschäft ihrer Eltern. Ich meine, es war eine Art Stoffwarengeschäft, das von Gardinenstoffen bis zu Wolljacken alles verkaufte einerseits, und andererseits im Schaufenster des Nebenhauses, wo ihre Cousine Doris wohnte, war die Möbelabteilung. Ellen hatte einen kleinen Bruder, der hieß Werner, und so waren ohnehin schon viele Kinder im Haus.
Ich weiß noch von einer Art Matzenkloßschlacht zu Pesach, dem jüdischen Osterfest, und ich sehe genau die runden Kloßränder an den Festtagskleidern, die dann schwer aus der Wäsche rauszubekommen waren. Nach dem Essen spielten wir oft Blindekuh und „Toter Mann“. Dieses letzte Spiel faszinierte besonders, da der „Tote Mann“, wenn er aufstehen sollte, immer dort die Füße hatte, wo wir den Kopf vermuteten. Wir konnten alle etwas hebräisch sprechen und nahmen „Joseph und seine Brüder“ und den „Auszug aus Ägypten“ sehr ernst. Später, zu Beginn der Hitlerzeit, lehrte uns Frau Rosel Hirsch ein Gedicht, wovon ich noch die erste Zeile erinnere: „Sei stolz, daß du ein Jude bist, sei stolz und bescheiden.“
Dann zerstreute sich die Gemeinde in alle Welt. Ellen und Doris wanderten zuerst nach Nyons in Südfrankreich aus, und später nach Lyon. Lotte nach Palästina, das noch nicht Israel hieß. Kurt, Lizzi und Albert Wolf und auch Fritz Wolf nach Frankreich in die Pyrenäen. Fritz und Albert sollen später Metzger und Bäcker geworden sein. (Zu Fritz mit den rosa Gesichtsbacken hätte es gepaßt!) Doch beide fielen im Krieg für die Alliierten zwischen 1939-45. Walter, Herbert und Anneliese Levy sind nach Israel ausgewandert. Was hatte Walter Levy am ersten Schultag über mich gesagt? „Arons Edith ist dumm, ist die dumm!“ Der Lehrer hat uns geheißen aufzustehen, und sie ist nicht aufgestanden. Als Erklärung sagte Edith: „Ich sitze gerade gut.“
Die silberne Mickymaus-Anstecknadel war einmal den ganzen Winter über, oder vielleicht noch viel, viel länger, verschwunden. Wir fanden sie dann beim Aus- oder Umgraben im Frühjahr im Garten wieder. Etwas plattgedrückt allerdings.
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Weiterhin betätigte sie sich als Übersetzerin von Werken aus Lateinamerika. Neben Cortazar übertrug sie auch Jorge Luis Borges und den späteren Nobelpreisträger Octavio Paz ins Deutsche.
Ihre Geburtsstadt Homburg stiftete ihr zu Ehren einen „Edith-Aron-Schulpreis“, der erstmalig 2011 verliehen wurde. Für den Preis war ein Zweijahresrhythmus vorgesehen, die Auszeichnung war mit 1500 Euro dotiert. Prämiert werden sollten damit Arbeiten von Schülern, die sich mit Migration, Emigration und Integration auseinandersetzen. Edith Aron widersprach aber der Verwendung ihres Namens für diese Auszeichnung, da sie nicht aus politischen oder religiösen, sondern aus rein persönlichen Gründen emigriert sei.
Unter der Regie von Boris Penth entstand über mehrere Jahre hinweg ein Dokumentarfilm, in dem das Schicksal Edith Arons nachgezeichnet wird. Das dabei aufgezeichnete Londoner Interview von 2010 ist ein zeitgeschichtliches Dokument. Edith Aaron erzählt darin von ihrer Zeit in der jüdischen Schule in Homburg und von der Machtergreifung der Nazis, die sie als Zehnjährige 1933 miterlebte, ohne die politische Tragweite auch nur annähernd zu erfassen. Detailliert erinnert sich Aron an das Homburg der frühen 1930er-Jahre, an Nachbarn, Straßenzüge, Feste. Und sie berichtet, aus welchem Grund ihre Mutter mit ihr das Saargebiet verließ. Die Nazis spielten dabei kaum eine Rolle. Vielmehr wollte die Mutter nicht mehr länger mit ansehen, wie ihr Mann sie mit anderen Frauen betrog. Elf Jahre war Edith Aron alt, als sie Europa verließ und in Rotterdam den Dampfer Richtung Südamerika bestieg. Der schmerzliche Abschied vom Vater erwies sich Jahre später als Glück im Unglück. Dieser blieb zunächst noch in Homburg, floh jedoch Anfang der 1940er-Jahre nach Südfrankreich, wo er nur zufällig den Fängen der Gestapo entkam. Der Dokumentarfilm „Das Papier sagt nichts, hört zu“ wurde 2015 fertiggestellt. Homburg besuchte Edith Aron letztmals 2003; dabei weilte sie auch in der Ruine der Synagoge. (MB)
Anlässlich ihres 100. Geburtstages gibt Ralph Schock 2023 im St. Ingberter Conte-Verlag ein Edith-Aron-Lesebuch heraus. Durch seine Arbeit in der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks steht er seit 1992 in Kontakt mit ihr und hat sie im Mai 2000 auch persönlich kennengelernt. Der Band „Auf Wegen und Pfaden“ enthält Erzählungen der Autorin, teilweise mit Erinnerungen an ihre Kindheit in Homburg, sowie zwei kleine Essays, Auszüge aus Briefen an Ralph Schock, Rezensionen, darunter eine aus der Feder von Ludwig Harig, und zwei Grabreden. In seinem Nachwort, in dem auch ihre engen Beziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten der internationalen Literaturszene, etwa eine Affäre mit Günter Grass, thematisiert werden, beurteilt der Herausgeber die literarische Qualität von Edith Arons Prosa sehr differenziert, auf jeden Fall aber sei sie „vor allem für Homburgs jüdische Vergangenheit eine bedeutende und unverzichtbare Zeitzeugin“.