geb. 17. Juni 1946 in Saarbrücken, wohnt in Saarbrücken.
Foto: Peter Baus
Erwin Stegentritt ist Autor, Verleger, Wissenschaftler und Inhaber einer Software-Firma. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts Studium der Romanistik und Germanistik an der Saarbrücker Universität, Mitarbeit am Sonderforschungsprojekt zur elektronischen Sprachforschung. Promotion in französischer Sprachwissenschaft. 1970 Gründung des AQ-Verlags („AQ“ für die Zeitschrift „Anti-Quarium“, die Situationen der zeitgenössischen Kunst und Literatur behandelt). Bald kommen belletristische Bücher dazu, dann die wissenschaftlichen Reihen „Sprachwissenschaft-Computerlinguistik“, „Bibliotheca Germanica (& Series Nova)“ und „Linguistica Septentrionalia“; neuerdings auch Publikationen zur kulturellen Zeitgeschichte des Saarlandes. Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes und am Institut National des Langues Orientales in Paris. Französisch-deutsche Übersetzungen.
Nachdem Stegentritt 1967 in eine eigene Wohnung in Dudweiler umgezogen ist (1 ½ Zimmer, Küche, Bad), veranstaltet der Student dort Ausstellungen unter dem Motto: „Hier ist keine Galerie, ich lebe nur hier und zeige Bilder“. Die Künstle aus Frankreich und aus der Schweiz, die er vorstellt, sind danach international bekannt geworden, darunter Christian Boltanski. Dokumentiert sind die Ausstellungen in einem AQ-Sonderheft 2022.
In seinem Verlag veröffentlicht Stegentritt ab 1979 auch seine eigenen Werke, u.a. die mittlerweile 5 Bände umfassende „Enzyklopädie“ mit subjektiven Reflexionen zu den unterschiedlichsten Phänomenen. Zum regionalen Literaturbetrieb wahrt er Distanz. Gründer und Inhaber der Firma TEXTEC SOFTWARE, die sprachverarbeitende Systeme produziert.
2021 bringt Stegentritt im AQ-Verlag sein „kleines Corona-Tagebuch“ heraus, das die Zeit vom 19.3.2020 („Es ist der 4. Tag der unfreiwilligen Isolation.“) bis zum 11.7.2021 umfasst. Es ist weniger das Protokoll äußerer Ereignisse, sondern wird mehr und mehr zum Medium der Selbstbefragung. 30.3.2020: „Wenn wir irgendwann auf diese Zeit zurückblicken werden, so wird vor allem die Unsicherheit aufscheinen: was wird geschehen? Können wir uns scützen? Können wir die anderen schützen?“ – 20.5.2021: „Gibt es noch den Weg nach vorne, irgendwohin, wo ich noch nicht gewesen bin?“
Christina Weiss, die spätere Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, charakterisiert den jungen Stegentritt 1985 in der „Zeit“ als einen, „der als Wissenschaftler, Verleger und Dichter Bedingungen des eigenen Denkens und Sprechens erforscht“, einen „Einzelkämpfer für die Kunst und mit der Kunst für das Experiment einer Veränderung der Weltsicht“. Und: „Kompromisslos arbeitet Erwin Stegtentritt auch als Autor mit der Sprache, er attackiert die Sprache, baldowert sie aus, irritiert Benennungen. Zeit (RP)
ZITAT
Zitat von Erwin Stegentritt
Erzählen können, an einem bestimmten Tag beginnen und die lange Liste der Begebenheiten abarbeiten, aufzählen, und nennen. Sich selbst und den anderen vor Augen führen. Die Bilder anschauen aus dieser Zeit und die dazugehörenden Gefühle anfassen. Auferstehen lassen. Manchmal bewundern.
Erzählen von den Ankünften, den zufälligen Treffen, dem Lachen, den Vorstellungen von einem richtigen Leben. Von einem richtigen Arbeiten, Malen, Schreiben, Leben.
Du gehst in die dann offenen Häuser hinein, du läßt dich auf eine Vergangenheit ein, mit ihrem Namen, wie „Eine Frau geht nach Paris“, die Ortsnamen, ja, eine Straßenecke, ein bestimmter Bordstein, der Regen.
Was weißt du noch von jenen Tagen, von jenen Gesprächen, von jeglichen Erwartungen, von den Wünschen, der Gier? Auseinandersetzung und Angst. Nachts den Fluß anschauen, Gebete sprechen, die an niemanden zu richten sind. Die Menschen rufen, bei ihrem Namen rufen, damit sie sich umwenden, sich zeigen, wieder kommen.
Aufschreiben, was du nicht erzählen kannst; gibt es einen Halt? Lesen, Wiederlesen, was geschrieben ist. Aufheben. „Der trockene Staub“, als sei er je anders, als trocken. Einfluß über Einfluß, Schatten von Schatten, Tote von Toten.
Es gibt die Stellen, an denen das Sprechen – dein Erzählen – nicht mehr vorangehen kann, wo die Stimme, die Stimmkraft nicht mehr die Töne, Silben aneinanderreihen kann, nur Reste sind da, die aus dir herauskommen, einzelne Buchstaben, große und kleine Zeichen, für andere Dinge, für die Stimmungen, für die Erwartungen und Niederschläge. Wie kannst du sie hervorholen. „Fassen, mit den Händen fassen“. Anspielungen, Nennungen. Welche Namen, welche Stadt, welche Ziele?
Gehst dorthin, ist es eine fremde Stadt, ist es ein Kommen? Verlangsame die Gedanken, vorsichtiges Bewegen; mit den Schritten ganze Viertel durchmessen, ganze Leben bestimmen: ändern.
Unter dem Bogen, über den Häusern hinweg siehst du einen Himmel, wenn die Wolken treiben. Die Menschen reisen, reisen an, reisen ab, reden und reden und reden nicht. Du sitzt bei ihnen und bist so still wie immer, erschöpft und losgelöst von allen Dingen, die da sind, die du vielleicht kennst, die endlose Liste der Namen der Pflanzen, der Tiere, der Dinge; ein Tanker im Hafen, einige Wellen an der Kaimauer, die Gerüche und Gefühle.
Die Maler malen und malen die fast gleichen Dinge, die Schreiber schreiben und schreiben die fast gleichen Wörter, Bezeichnungen von Dingen, gibt es sie, was bedeuten sie, die fast gleichen Gegenstände, Sichten (die bildliche Perspektive, gibt es eine erzählte Zeit?), Personen, Trennungen von Personen, Empfindungen dabei, erinnerte, keine wirklichen, doch wirkliche Gefühle, erinnert, und hier, gegenwärtig, lebend, übereinander, durcheinander. Hin und wieder ein Wechsel im Ton, der Standpunkt, die Blickrichtung schwingt von hier nach dort. Eigentlich bist du nicht hier, bist du nicht festgelegt, denn die Fixpunkte wandern umher, die Erinnerung bleibt. Sage wieder einen Namen, dein Hiersein in einer Stadt, an einem Ort, die Bewegung mit diesem und mit jenem Menschen, die Gespräche, die früh am Abend beginnen, und dann nicht enden werden.
Erwin Stegentritt: Text aus „Quintessenz“, Saarbrücken 2009, S. 34-35.
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