Marie-Luise Scherer

geb. 15. Okt. 1938 in Saarbrücken, gest. 17. Dez. 2022 in Damnatz (Wendtland)

Die Autorin sitze an einem Tisch und raucht. Vor ihr sind zwei Mikrophone aufgestelltDie „Zeit“ nannte sie „die legendäre Reporterin und Erzählerin“.

Marie-Luise Scherer ist eine Journalistin, deren Reportagen literarische Qualität besitzen. Deshalb sind viele der Preise, die sie bekommt, Literaturpreise, auch der Kunstpreis des Saarlandes wird ihr in der Sparte Literatur verliehen. In der Begründung der Jury heißt es: „Marie-Luise Scherers publizistische Arbeiten sind von überragender Sprachkraft – sie sind Literatur. Ihre Reportagen setzen einen Akzent gegen die Schnelllebigkeit journalistischer Darstellungen, sie sind Erzählungen mit präzise recherchiertem Hintergrund. Marie-Luise Scherer ist damit einzigartig in der deutschen Gegenwartsliteratur.“

Dabei ist das Literarische an den Texten von Marie-Luise Scherer nicht nur eine Stilfrage. Es geht auch um das, was Brigitte Kronauer „die Freiheit einer sporadisch waltenden Fiktionalität im strengen Tatsachenarrangement“ nennt.   Das heißt, Marie-Luise Scherer nimmt sich die poetische Lizenz, erfundene bzw. aus anderen Zusammenhängen stammende Details in ihre Reportagen einzubauen, die den Anschein der Authentizität erhöhen – im Dienste einer höheren Wahrheit.

Ihre journalistische Laufbahn beginnt sie beim „Kölner Stadtanzeiger“. Dann schreibt sie für die „Berliner Morgenpost“ und den „Spiegel“. Beim „Spiegel“ ist sie ein Star, ihre Texte werden gelegentlich sogar zur Titelgeschichte des Magazins. Herausgeber Rudolf Augstein glaubt an ihr Genie, sie hat den damals einmaligen Sonderstatus einer „Spiegel-Autorin“, ist von der Teilnahme am Redaktionsbetrieb entbunden und kann an ihren Reportagen feilen.
Legendär wie die Resultate ihres Schreibens ist auch ihr Zustandekommen. Sie ist (wie schon Egon Erwin Kisch, auf den dieses Attribut ursprünglich gemünzt war) das Gegenteil der „rasenden“ Reporterin, sondern eine extrem langsame Schreiberin. In ihrer Dankesrede zum Italo-Svevo-Preis gibt sie Einblick in ihre Schreibwerkstatt. Ihr erwachsenes Leben sei „geprägt durch die Furcht vor dem Schreiben“. Um beginnen zu können, warte sie auf Bedingungen, die sich ohne ihr Zutun einstellen müssten, es aber wohl nur selten tun. Notizen hingegen mache sie, wo sie gehe, stehe und sitze, sie hat sich im Verdacht, dass sie, aus Furcht vor dem eigentlichen Schreiben, an einem „Notizenwahn“ leidet. Aber an der Maschine befalle sie das Ungenügen: „Über der Entscheidung, eine Strickjacke blau oder bläulich zu nennen, kann ich eine ganze Nacht zubringen.“

Manche ihrer Stücke seien „heute legendär“, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ 2008, zum Beispiel das über den unheimlichen Ort Ost-Berlin oder über Frauenmorde in Paris. Doch aus Paris schreibt sie nicht nur über Morde, sondern auch über Mode oder über den letzten damals noch lebenden Surrealisten Philippe Soupault. Viel gerühmt sind auch ihre Reportagen über einen russischen Akkordeonspieler und über die deutsch-deutsche „Hundegrenze“. „Ungeheurer Alltag“ heißt ein Band mit Reportagen aus dem „Spiegel“ – das Alltägliche wird unter ihren Augen zum Ungeheuerlichen.

Ihre Beispiele bezieht Marie-Luise Scherer gerne mal aus dem Land ihrer Herkunft. Als sie 1973 für die Illustrierte „Stern“ eine Reportage über die Sexualmoral auf dem Land schreiben soll, recherchiert sie in Webenheim, Wadern, Mimbach, Lummerschied und anderswo im Saarland. Der Umgang mit unverheirateten älteren Mädchen und Männern oder gar mit unehelichen Geburten sind Belege für den „Terror der Provinz“, der in Wahrheit aber einer Doppelmoral entspringt: „Für einen guten Leumund ist nur die Fassade wichtig. Sie soll, auch wenn es mit dem Teufel zugeht, immer frisch im Anstrich sein.“ („Stern“ Nr. 45/73). Der „Saarbrücker Zeitung“ ist dies eine Woche später (SZ vom 8.11.73) eine groß angelegte Erwiderung wert, bei der Scherers Recherchemethoden in Frage gestellt werden.

1975 gibt die Autorin dank ihrer intimen Kenntnis dem bundesdeutschen Publikum Einblicke in die politische Mentalität ihrer saarländischen Landsleute unter Franz Josef Röder. Der damals seit sechzehn Jahren regierende Ministerpräsident, heißt es in der Reportage für den „Spiegel“ (Nr. 24/75), verdanke „seine lange politische Anwesenheit einem gouvernementalen Grundgefühl an der Saar, einer katholischen Fügsamkeit gegenüber Herrschaften, deren Distanz sich auch mit Tradition verwechseln lässt, dem Respekt vor ‚studierte Leut‘, und seiner Fähigkeit, dialektfrei zu sprechen“. Und weiter: „Franz Josef Röder empfiehlt sich seit 16 Jahren als kompensatorische Persönlichkeit gegen den saarländischen Minderwertigkeitskomplex, den er fortwährend suggeriert.“

Über die Privatperson Marie-Luise Scherer weiß man wenig. Zur Welt gekommen ist sie in Saarbrücken, danach lebt sie in Niedersachsen auf dem Dorf, in Damnatz (Betonung auf der 2. Silbe) im Landkreis Lüchow-Dannenberg. „Viele Kulturschaffende haben hier ihr Zuhause gefunden“, heißt es auf der Homepage der „Perle an der Elbe“.

schwarz weiß Aufnahme der Autorin am Rednerpult

Verleihung des Siebenpfeiffer-Preises 1989

Aber in manchen Dankesreden anlässlich ihrer Preisverleihungen, in denen sie kaum Bezug nimmt auf den Preis, seine Stifter und die namengebenden Autoren, gibt Marie-Luise Scherer dann doch erstaunlich Persönliches preis. Aus ihrer Dankesrede zum Heinrich-Mann-Preis (2011) erfahren wir immerhin so viel: Marie-Luise Scherer hatte einen Bruder, der zu ihrer Jugendzeit „auf schreckliche Weise gestorben“ ist. Der Vater betreibt in Saarbrücken unter dem Namen Merkur eine Handelsagentur für Präzisionsstahl aus Schweden. Die Natur hat ihn „mit Güte und Unbescheidenheit, auch einer Spur Größenwahn“ ausgestattet. Er scheitert als Unternehmer, denn er hat „nicht zum Kaufmann getaugt“: „Er entbehrte jeglicher Härte und fand Schläue vulgär.“ Die Familie kann sich nichts mehr leisten, „auf unseren Möbeln klebte der Kuckuck“, nicht einmal eine Urlaubsreise ist drin, es reicht nur für die Fahrt „zum Wildschweingehege vor der Stadt oder mit altem Brot an die Ententeiche“.  Der Vater ist, als Grenzbewohner, „auf eine überschüssige Weise deutsch“. Die Mutter stirbt, als die Kinder noch klein sind. Der Vater in seinem Unglück macht Marie-Luise „zum Gegengewicht seiner Verluste“, er phantasiert von ihren journalistischen Triumphen, während sie in Berlin als Lokalreporterin über triviale Themen schreibt wie Inventuren in Zoogeschäften oder die Darmverschlingungen des See-Elefanten Bolle.

In der Heinrich-Mann-Rede fallen auch ein paar Bemerkungen über den Saarländer als solchen an. Er drückt den Daumen auf den Camembert, um seine Reife zu prüfen; er hat in Folge der wechselnden nationalen Zugehörigkeit ein „gouvernementales Grundgefühl“ (was immer das heißt); und er leidet bei der Aussprache unter „Konsonantenschwäche“, so dass man „im wirklichen Deutschland“ seine Sprache oft für sächsisch hält.

Ungewöhnlich fällt auch die Dankesrede zur Verleihung des Saarländischen Kunstpreises aus. Sie beginnt mit dem Satz „Ich kann die Schönheit des Saarlandes nicht feiern“ (weil sie sie, wie sie sagt, zum größten Teil nicht kennt), und ist ebenfalls biografisch angelegt. Allerdings handelt der Text nur indirekt von der Rednerin selber, die Mutter wird gar nicht erwähnt, der Vater nur in seiner Eigenschaft als Sohn der Großmutter, die für das Kind offenbar eine große Rolle gespielt hat.

Die Großmutter väterlicherseits hatte einen Wachmann bei der Grube Von der Heydt geheiratet. Die Autorin entwirft kein idyllisches Bild von dem Dorf, in dem sie die Großmutter wohl oft besucht hat. Marie-Luise Scherer geht in ihren Erinnerungen aus von einer Ansichtskarte von Von der Heydt, die hinter ihrem Schreibtisch hängt und die die „Rückständigkeit“ des Dorfes ohne Verklärung zeigt. Das korrespondiert mit Erinnerungen an Häuser mit Grubenschäden, an lungenkranke ehemalige Kohlenhauer, an eine „diverse Kavaliere“ empfangende Nachbarsfrau, einen gehbehinderten Schuster und an zwei Söhne der Großmutter, die verstört aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Außer der Begegnung mit diesen Nachbarn und Verwandten sowie Friedhofsbesuchen mit einer Tante hat das Kind „keine großen Erlebnisse“.
Groß werden die Erlebnisse erst später unter der Feder der Autorin. (RP)