Wilfried Böhringer
geb. 29.Nov.1945 in Villingen-Schwenningen, gest. 20.08.1997 in Kanada
Er war mit den bedeutendsten Autoren Kubas befreundet, hat den „karibischen Ulysses“ übersetzt und an der Uni des Saarlands gelehrt. Wilfried Böhringer war ein wichtiger „Brückenbauer“, ein Kultur-Vermittler aus tiefster Überzeugung.
Geboren in Villingen-Schwenningen am Ostrand des Schwarzwalds; besucht das Gymnasium im 60 km entfernten Emmendingen. 1967 kommt er nach Saarbrücken und schreibt sich am Dolmetscher-Institut (heute FSI) der Uni des Saarlandes für die Sprachen Französisch und Spanisch ein. Nach seiner Diplomprüfung bekommt er zunächst Lehraufträge, 1980 wird er als Dozent am Romanistischen Institut der Uni fest angestellt. Dort lernt er auch seine spätere Frau Astrid Böhringer kennen. 1993 ziehen sie nach Sulzbach-Neuweiler, wo auch ihr Freund und Kollege Eugen Helmlé wohnt. 1997 kommt Wilfried Böhringer bei einem Unfall in Kanada ums Leben.
Gleich mit seiner ersten Buchübersetzung im Jahr 1985 macht Böhringer sich einen Namen. Für den Suhrkamp-Verlag überträgt er Tzvetan Todorovs „Die Eroberung Amerikas – Das Problem des Anderen“ (Originalausgabe: Éditions du Seuil, Paris 1982) aus dem Französischen. Das komplexe Werk des bulgarisch-französischen Gelehrten beschäftigt sich mit dem Jahr 1492 und seinen Folgen, also mit der „Entdeckung“ Amerikas durch Europäer und die Konsequenzen der einsetzenden Kolonisierung („Keines der großen Massaker des 20. Jahrhunderts kann mit diesem Blutbad verglichen werden.“ TT) Todorovs Analyse initiiert eine anhaltende soziologische, anthropologische, politische Diskussion; das Buch war ein Bestseller und bleibt bis heute aktuell.
Böhringers Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Suhrkamp-Verlag geht weiter. In den 1980er Jahren ist in Deutschland ein Boom lateinamerikanischer Autoren zu verzeichnen. Der bedeutendste Vertreter Kubas heißt Guillermo Cabrera Infante (1929–2005). Zwar sind seine Prosawerke in Spanien schon in den 60er und 70er Jahren erschienen, in Deutschland ist der Exil-Kubaner aber noch ein Unbekannter. Böhringer überträgt zunächst das opus magnum Cabrera Infantes, „Drei traurige Tiger“ (Original: Barcelona 1967, Übersetzung: Frankfurt 1987).
„Havanna vor der Revolution: Im Dschungel der Nacht amüsieren sich vier befreundete Künstler in Bars, Nachtclubs und Absteigen. Sie… tigern umher… und lecken ihre Wunden. Eine längst vergangene Welt ersteht in komischen, traurigen, erotischen und kaleidoskopischen Bildern“ (Verlagsinformation). Dieser Versuch einer knappen inhaltlichen Beschreibung wird dem Werk nicht gerecht, seine Bedeutung liegt in seiner Sprachgewalt. Zwar gibt es Stimmen, die in „Drei Tiger“ ein „langes, redseliges, diesseits und jenseits des Erträglichen kalauerndes Nacht- und Reflexionsbuch“ erkennen wollen (Paul Ingendaay, FAZ); der Großteil der Kritiker ist jedoch hingerissen. Dennis Scheck (Die Welt) rühmt einen „Stimmenwirbel, so bunt, aufregend und vielfältig wie der Alltag in Kuba selbst, ein in Bann schlagender Katalog von Sprechweisen und Redensarten, so individuell wie ein Fingerabdruck.“ Der fragmentierte Erzählstrom, die inneren Monologe, die Collagen, Persiflagen und Stil-Parodien (teils lebender) kubanischer Autoren, vermischt mit filmhistorischen Anspielungen und Musikzitaten, erinnern an James Joyce und stellen „Drei traurige Tiger“ neben den „Ulysses“ des irischen Sprachvirtuosen.
Ein so vielschichtiges, verspieltes Werk zu übertragen, ist eine Herausforderung. Gut zwei Jahre arbeitet Böhringer daran. Seine Frau Astrid erinnert sich, dass ihm an manchen Tagen gerade einmal zwei oder drei Sätze gelangen. In der Zeitschrift „Der Übersetzer“ (Nr. 7/8, 1987) schreibt Wilfried Böhringer über einen Besuch bei Cabrera Infante in dessen Londoner Wohnung in der Gloucester Road: „Es kam ihm weniger darauf an, dass sein Text in jeder Einzelheit unversehrt blieb, viel wichtiger war ihm, dass der Geist des Buches nicht verraten wurde. Gerade bei den Wortspielen, die ja nur in seltenen Glücksfällen direkt zu übertragen sind, konnte ich so ohne schlechtes Gewissen die Freiheit genießen, sein Spiel in der eigenen Sprache und von ihr angestiftet weiterzubetreiben und an anderer Stelle zu kompensieren, wenn etwas an seinem Ort partout nicht herüberzuretten war.“
Böhringers intensives Sich-Hinein-Versetzen in die Welt des kubanischen Autors wird 1988 mit dem renommierten Helmut M. Braem-Übersetzerpreis belohnt. Und in den folgenden Jahren mit dem Auftrag, zwei weitere Werke Cabrera Infantes für den Suhrkamp-Verlag zu übersetzen: „Die Ansicht der Tropen im Morgengrauen“ (1992) und den Band „Wie im Kriege also auch im Frieden“ (1996), vierzehn Erzählungen, denen jeweils eine Vignette vorangestellt ist.
Neben Guillermo Cabrera Infante ist in der (exil-)kubanischen Literatur jener Zeit unbedingt Jesus Diaz (Jesus Diaz Rodriguez, 1941–2002) zu nennen. Die deutschen Rechte an seinen Werken hat sich der Münchner Piper Verlag gesichert, die Übertragungen soll Wilfried Böhringer besorgen.
Die beiden großen Kubaner haben einiges gemeinsam. Cabrera Infante ging 1965 ins Exil und nahm 1979 die britische Staatsbürgerschaft an. Jesus Diaz wurde praktisch verbannt. Mit der Begründung, dass er „die Revolution verraten“ habe, verweigerte ihm die kubanische Regierung 1992, als er sich in Deutschland aufhielt, die Wiedereinreise in sein Heimatland. Daraufhin übersiedelte er nach Madrid. Beide Autoren schreiben nicht nur Romane und Erzählungen, sie sind auch Kino-Enthusiasten und arbeiten als Drehbuchautoren, Regisseure, Filmkritiker.
1987 legt Böhringer den ersten Text von Jesus Diaz vor, „Die Initialen der Erde“. Dieser teils autobiografische Roman ist schon 1974 entstanden, in Kuba aber „aus Papiermangel“ zunächst nicht veröffentlicht worden. Walter Haubrich nennt ihn in der FAZ „den wohl bedeutendsten“ kubanischen Roman der letzten drei Jahrzehnte, und „eine Satire auf die revolutionären Phrasen, den maoistischen Dogmatismus, den Opportunismus von Parteifunktionären und die hirnlose Bürokratie.“
1992 erscheint Böhringers zweite Übertragung eines Romans von Jesus Diaz, „Die verlorenen Worte“, 1997 folgt „Die Haut und die Maske“. Max Grosse schreibt dazu in der FAZ: „Jesús Díaz hat seine alte Leidenschaft fürs Kino in der Literatur aufgehoben: Die Erzählung erzeugt den Film im Kopf des Lesers und kontrastiert ihn gleichzeitig mit einer nicht minder scheinhaften Wirklichkeit. Die 32 Kapitel berichten von den Dreharbeiten zu einem Film, dessen Titel mit dem des Romans übereinstimmt. …Jedes Kapitel macht sich jeweils die Sichtweise von einem der fünf Hauptdarsteller zu eigen und referiert die Sequenzen des Films im Wechsel mit dem nicht minder dramatischen Privatleben der Schauspieler.“
Zu Cabrera Infante und Jesus Diaz gesellen sich Anfang der 1990er Jahre zwei weitere Kubaner. Böhringer überträgt den Erzählband „Kleine Manöver“ (Suhrkamp, 1990) von Virgilio Pinera, sowie José Lezama Limas „Spiel der Enthauptungen“ (Frankfurter Verlagsanstalt, 1991).
1992 kommt ein junger mexikanischer Autor hinzu: der 1964 in Jalisco geborene Hugo Salcedo. Sein Hörspiel „Die Reise der Sänger“ (Ursendung WDR, 1992, Regie: Norbert Schaeffer) handelt vom tragischen Tod einer Gruppe von Mexikanern, die beim Versuch, illegal in die USA zu gelangen, in einem Güterwaggon ersticken.
1996 schließlich überträgt Wilfried Böhringer das literarische Roadmovie „Die Autonauten auf der Kosmobahn“ des Argentiniers Julio Cortazar. Das karibische Kuba, das aztekische Mexiko, das noch europäisch geprägte Argentinien – und bereits 1986 hatte er zusammen mit seiner Frau Astrid einen uruguayischen Erzähler übersetzt (Horacio Quiroga: „Geschichten von Liebe, Irrsinn und Tod“) – die Vielfalt der lateinamerikanischen Literaturen fasziniert Wilfried Böhringer. In einem Gespräch mit der Saarbrücker Zeitung (04.08.1993) betont er seine Verbundenheit mit dem Andenstaat Peru. Der Indigenismus zieht ihn an, immer wieder unternimmt er Reisen nach Lateinamerika.
Wichtig ist ihm, sich ganz und gar auf eine fremde Kultur, auf ein literarisches Werk einzulassen. Den Übersetzer vergleicht er mit einem Pianisten. „Der Übersetzer benötigt nicht nur handwerkliches Geschick, sondern auch eine hochentwickelte Sensibilität, um aus den Partituren alles herausholen zu können“ (Saarbrücker Zeitung). Und das unter Zeitdruck und für beschämend niedrige Honorare. Anlässlich der Verleihung des Helmut M. Braem-Preises sagt Böhringer 1988: „Es gehört zu meinen Manien, bei jedem Auftrag die aufgewendete Zeit festzuhalten, um dann am Ende meinen Stundenlohn auszurechnen. Es interessiert mich, ob ich mit dem Übersetzen an den Lohn meines Vaters herankomme, der Hilfsarbeiter in der Druckerei eines Großverlags war. Wenn ich nun bei den ‚Tigern‘ dem Honorar noch die Preissumme zuschlage – was natürlich keine ganz legitime Rechnung ist – dann komme ich auf den in unserem Metier geradezu fürstlichen Stundenlohn von 20 DM – brutto, versteht sich.“ (Der Übersetzer 11/12, 1987).
pmk