Ein Dichter wie kein anderer – Sibylle Knauss würdigt Arnfrid Astel

Rede der Schriftstellerin Sibylle Knauss auf den verstorbenen Dichter Arnfrid Astel bei einer Gedenkveranstaltung am 13. April 2018 im Konferenzgebäude des Saarländischen Rundfunks (Auszüge):

Liebe Freunde von Arnfrid Astel, liebe Kollegen, liebe Schüler von ihm, liebe Leser seiner Dichtung und von ihr Bezauberte, liebe Trauernde um ihn, liebe Hildegard …

Wir trauern um einen Dichter. Die zeitgenössische Sprache ist sparsam mit dieser Bezeichnung. Spricht von Autoren, von Schriftstellern, Romanciers, Lyrikern, Essayisten. Doch Arnfrid Astel, Hans Arnfrid Astel, war ein Dichter.

Dem ist beinah nichts hinzuzufügen. Der Ausruf „Ecce poeta!“ verlangt keine Erläuterung, ist Ausdruck der Überwältigung durch eine Erscheinung: Siehe – ein Dichter! Ein großer, schlanker Mann, nachlässig gekleidet, den unvermeidlichen Stoffbeutel an der Hand, freundlich, wenngleich etwas zerstreut und abwesend – eine Erscheinung von großer Unaufdringlichkeit. Ecce poeta.

Jetzt also gänzlich abwesend. Zurückgezogen dahin, wo er für uns nicht mehr erreichbar ist. Der Wunsch, ihn herbeizubeschwören, ihn hier unter uns zu haben, ist übermächtig und vergebens. Aus der Laudatio ist Totenklage geworden. Nachruf statt Lobrede.

Klagen Sie mit mir um den Menschen, den Mann, den Freund, den Gefährten, den Dichter, der Arnfrid Astel war. Ich bin nicht autorisiert, hier allein zu stehen, weder um für sein Werk, noch für sein Leben zu zeugen. Stimmen Sie innerlich ein durch das, was Sie persönlich in der Begegnung mit ihm erfahren haben.

Ich habe nur den späteren Arnfrid Astel gekannt. Den Rundfunkliteraten, mit dem „Literatur im Gespräch“ zu erfahren eine große Auszeichnung für mich war. Den Gefährten von Hildegard Steimer. Den Vater, der aus Trauer um einen Sohn dessen Namen trug. Ich hätte gezögert, ihn als Freund zu bezeichnen. Aus Scheu, aus Respekt, aus Verehrung, obwohl er dergleichen nie zu erwarten schien. Immer jedoch, bis zum Ende, war es ein Fest, ihn zu treffen, eine große Freude, Beschenktsein, Bereicherung. Immer ging von den Beiden, Arnfrid und Hildegard, große geistige Strahlkraft aus. Ihre Anwesenheit prägte jede Gesellschaft. Nicht in den Vordergrund drängten sie, sondern bildeten ein Zentrum, einfach so.

Klagen Sie mit mir um den Mann, der aus diesem Bild jetzt verschwunden ist. Lassen Sie uns einen Moment lang untröstlich sein, bevor das Leben weitergeht, andere Gesellschaften, andere Konstellationen uns durchaus unterhaltsam erscheinen werden. Und doch werden wir dann und wann die Leerstelle sehen, an der Arnfrid fehlt, und gar nicht wünschen, dass sie sich schließt. Denn die Toten sind ja nicht einfach abwesend. Sie sind nur anders für uns da. Das hat niemand besser als Arnfrid gewusst. Und er hat darüber vollkommene Verse geschrieben. Hören Sie:

Überall fehlst du mir ganz.

Jetzt ist nichts ohne dich.

Das ist grandios. Große, große Sprachkunst in diesen paar Worten. Es ist aus „Wohin der Hase läuft“ von 1992. Ich gehe davon aus, dass es sich auf den Tod des Sohnes Hans bezieht.

Überall fehlst du mir ganz.

Jetzt ist nichts ohne dich.

Anwesenheit in der Abwesenheit. Omnipräsenz in der Trauer. Äußerste Konzentration in Sprache und Gedanken. Dichtung, die wahrhaftig durch Verdichten entsteht.

Andere, ich zum Beispiel, schreiben Romane über den Verlust. Arnfrid Astel genügen zehn Wörter. Keine sprachliche Attitüde. Nichts wird prätendiert. Nichts erklärt. Ich verneige mich vor solcher Sprachkunst.

Andere, sofern sie der Sprache mächtig wären wie er, würden die Abstammung aus dem finstersten Herzen des Nationalsozialismus zum Roman gemacht haben, um damit die Chance zu ergreifen, weltberühmt zu werden: Diese unglaubliche biografische Erfahrung, als Sohn eines tief in die Schuld am nationalsozialistischen Rassenwahn verstrickten Vaters geboren zu werden, als Zwölfjähriger seinen Selbstmord zu erleben: welch ein Stoff! Der Roman existiert nicht. Gar kein Roman von ihm. Auch das Biografische wahrhaft verdichtet, zum Beispiel in den zwei Zeilen aus einem Gedicht, das „4. April 1945“ überschrieben ist (der Tag, an dem der Vater sich das Leben nahm) „- für Karl Astel“

Du hast dich selbst

Ans Hakenkreuz geschlagen.

Soll man das „Vergangenheitsbewältigung“ nennen, wie es gewöhnlich heißt? Da wird nichts bewältigt. Was unfassbar ist, bleibt unfassbar. Es sind zwei Zeilen, die Unfassbares benennen. Große lyrische Kunst, die das Geheimnis, um das sie kreist, nicht preisgibt, sondern für sich behält.

Du hast dich selbst

Ans Hakenkreuz geschlagen.

Das Gedicht ist, wie viele andere auch, ungedruckt, aber nicht unveröffentlicht. Und an dieser Stelle ist einmal das Internet zu preisen. Die Online-Edition von fast 6000 Gedichten und Epigrammen von Arnfrid Astel, die Hans-Gerhard Steimer besorgt hat, dem man dafür nicht genug danken kann. Ein Tresor. Eine Schatzkiste. Das also gibt es auch in der Cloud, diesem gigantischen Mückenschwarm der Informationen, der uns umgibt und von dem auch wir ein Teil sind:

Hans Arnfrid Astel, Sand am Meer“ eingeben, und der Tresor tut sich auf. 2266 gedruckte und 3570 ungedruckte oder verstreut publizierte Gedichte, übersichtlich und leserfreundlich vernetzt, alphabethisch, zeitlich und nach Gegenständen geordnet. Eine Fundgrube für Liebhaber. Nur ein paar Clicks entfernt. Sollen sie doch in Marbach in Zettelkästen wühlen und ihre Sammlungen auf unter 18 Grad hinunterkühlen, dass einen beim Lesen und Anschauen das Frösteln ankommt. Wenn alle Bücher vergriffen sind und alles Papier vergilbt, hoffe ich für diese Gedichte, dass sie auf irgendwelchen digitalen Speichermedien überlebt haben.

Ich weiß natürlich, dass Arnfrid selbst der Welt des Digitalen überaus distanziert gegenüberstand und auch damit kokettierte, dass er es zur Not und nur mit Hildegards Hilfe fertig bringe, die eigenen Texte im Netz aufzurufen. Dabei scheint es mir, dass diese unprätentiöse Art der Literaturvermittlung und der digitalen Veröffentlichungskultur andererseits zu ihm passte. Denn unprätentiös war er, um nicht das altmodische Wort „bescheiden“ zu verwenden. Im Alter wurde er, wie ich es erlebt habe, stiller, zurückgenommener, beiläufiger in seinen Anmerkungen, die deswegen nichts an intellektueller Schärfe vermissen ließen. An Tiefe der Einsicht und Fülle der Kenntnisse. Unbegreiflich ist mir, dass er in keiner der Akademien Mitglied war. Denn er war poeta doctus wie kaum einer. Niemand in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kann sich da mit ihm messen.

[…]

Ich habe bei meinem Suchgang durch die Gedichte von Arnfrid Astel kein einziges schlechtes gefunden. Nichts – ich sage: nichts – peinlich Misslungenes. Manches mag sehr kurz geraten sein, aber nie kurz gedacht.

Und kein Jargon. Nirgends. Nicht einmal, was an ein Wunder grenzt, in seiner politischen Dichtung.

Hier ein Text von 1974 mit dem Titel „Dialektik“ aus dem Band „Zwischen den Stühlen sitzt der Liberale auf seinem Sessel. Epigramme und Arbeitsgerichtsurteile“.

Die holprigen Straßen in der DDR.

Die schlecht gefederten Omnibusse.

Im Kapitalismus ist alles besser

Geteert und gefedert.

Das Szenario ist längst historisch geworden. Der Text so jung, witzig und geistreich wie damals. Und daran erkennt man den Dichter. Er stiftet, was bleibt. Wir trauern um Arnfrid Astel, dem wir nicht mehr begegnen und der uns schmerzlich fehlt. Doch was bleibt, sind seine Texte, in denen er, anders, verwandelt in Sprache, doch ganz er selbst, anwesend ist. Wir hören seine Stimme darin, die physische, die wir noch im Ohr haben, auf einer Vielzahl von Tonträgern konserviert, und die andere, die poetische. Denn Dichter haben noch eine andere, eine Stimme, die nicht stirbt, sondern in ihren Gedichten lebt. Trösten wir uns, sie ist nur ein paar Clicks entfernt. Und da vernimmt man sie in Worten wie diesen, die, obwohl 2007 geschrieben, schon wie ein Abschied sind:

Das Leben

Ist mir geronnen

Zur Grabschrift.

Ecce poeta.


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