Nach dem Sinn ihres Lebens hatte ich sie gefragt. Ich, die zwanzigjährige Enkelin, meine siebzigjährige Großmutter, und seit dieser Frage sind bis heute wieder gut fünfzig Jahre vergangen.
„Mei Awed“ [Meine Arbeit], sagte sie damals kurz und bündig, nachdem sie mir einen erstaunten Blick zugeworfen hatte. […]
Was musste nicht alles am Vormittag erledigt werden, Arbeiten im Haus oder auch im Garten. Die Kinder nahmen sie in Anspruch, brauchten ihre Zuwendung, dort einen Halsumschlag, hier einen Brustwickel. Die schwarze salbe, die zur Behandlung und Heilung eines Geschwürs oder eiterigen Pickels benötigt wurde, kochte sie selbst. Das Rezept hatte sie von ihrer Mutter übernommen, und diese Salbe enttäuschte nicht, sie heilte. Doch bei all diesen Verrichtungen am Vormittag stand immer der eine Gedanke drängend im Hintergrund: das Essen. Das Mittagessen musste sehr früh fertig sein, denn bevor die Kinder aus der Schule kamen, trug sie im „Henkelmann“, einem verschlossenen Blechbehälter, das noch dampfende Mittagessen, gut umhüllt und verpackt, dem Großvater zu seiner Arbeitsstätte, der Burbacher Hütte.
Punkt zwölf stieg er von seinem Feldherrnhügel, dem Kran, herunter. Ich bin überzeugt, dass er ein verantwortungsvoller, pflichtbewusster Kranführer war, auf dem gleichen Gelände an der Saar, auf dem sein Großvater noch den eigenen Acker bewirtschaftete, bevor dieses Land an die Gründer der Hütte verkauft werden musste. Ob sich meine Vorfahren gegen diesen Verkauf gewehrt haben, das weiß ich nicht, es hätte ihnen auch nichts genützt. Sie würden sich, wie man so sinnig sagt, „im Grabe umdrehen“, wenn sie heute das Hüttengelände sehen könnten.
Doch zurück zu meiner Großmutter, die, nachdem ihr Mann das warme Essen in den Händen hielt, gewiss müde und hungrig, den fast zwei Kilometer weiten Heimweg antrat. Was wartete nicht alles an Arbeit und Pflichten auf sie, wenn nach dem Mittagessen das Geschirr gespült war? Wo soll ich beim Aufzählen beginnen?
Da war das Kartoffeln „häufeln“, Bohnen und Weißkraut ernten, zerkleinern und Im Fass einlegen und säuern. Äpfel dörren, Pfefferminze trocknen. Geburtshilfe bei den Ziegen leisten, die kleinen Zickel aufziehen und noch vieles mehr. Doch da gab es eine Zeit, die ich als Enkelin noch miterlebt hatte, damals, wenn der Vorrat an Heu zur Neige ging und die noch verbliebenen Wiesen der Großeltern nicht gemäht waren. Diese Zeit hatte für mich einen besonderen Reiz und auch für die Großmutter einen Hauch von Ferien, Ruhe und Entspannung.
Draußen war es schon angenehm warm, die Sonne lockte uns. Auf dem Tisch stand bereits der Henkelkorb, in ihm lag der abgefangene Strickstrumpf und ein dickes Knäuel Wolle, das auf die Stricknadeln aufgespießt war. Daneben gab es die Flasche mit einem erfrischenden Getränk, selbstgemachtem, verdünntem Essigwasser mit einer winzigen Spur von Zucker, und ein dickes Butterbrot. Im Hof hörte ich das Meckern der Ziegen und die beruhigende Stimme der Großmutter. Sie hatte den beiden Ziegen kräftige Stricke an das Halsband geknüpft. Ein langer Stock, ein kleiner Klappstuhl und für mich ein Kissen vervollständigten unsere Ausrüstung. Eine richtige kleine Sommerexpedition machte sich auf den Weg zu den Wiesen, die im Weyerbachtal lagen. Da gingen die beiden Ziegenhirtinnen – die große und die kleine – durch die Püttlinger Straße, bogen in die Stahlwerkstraße, überquerten an deren Ende die Pfaffenkopfstraße und waren „Im Malhofen“. Mit einem Schlenker nach rechts gingen wir über eine Brücke, die einen schmalen Schienenstrang überspannte und dann wieder nach links, dem Von-der-Heydt-Wald entgegen. Am Rande des Weges sah ich einige niedrige alte Häuser und rechts in einiger Entfernung „de Äschebärsch“, ein Gelände, auf dem die Müllabfuhr den Müll und die Asche abkippte, eine Kraterlandschaft, von der an verschiedenen Stellen noch kleine Rauchwolken aufstiegen. Ich machte mir schon als Kind Gedanken, wenn ich dort vorbei ging, was man mit der Asche macht, wenn dort kein Platz mehr wäre. An der Firma Arnoth & Becker ging es vorbei. Dann kamen auch schon die Wiesen, und zwei von ihnen standen uns zur freien Verfügung, denn sie gehörten den Großeltern.
Viel gutes Zureden und ab und zu ein sanfter Klaps mit dem Stock, und die Ziegen trotteten immer wieder, nicht lamm-, aber ziegenfromm, neben uns her. Ich sehe die Großmutter noch heute vor mir, wie ihr bei jedem Schritt ihre langen, grauen, am Rockbund eingekrausten Röcke gegen die Beine schlugen. Ein faszinierendes, fast archaisches Bild.
Aus Ingeborg Becker: Geschichten aus der Schublade. Saarbrücken 1999
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Einer der profiliertesten saarländischen Mundartautoren, Peter Eckert, wohnt zwar schon lange im moselfränkischen Dialektbereich, schreibt als alter Burbacher aber immer noch in Saarbrücker Platt. Eine biographische Beziehung zu Saarbrücken besteht auch bei dem aus dem Hunsrück stammenden Mundartautor Friedrich Boor (1844-1919), der in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts als Nagelschmied auf der Burbacher Hütte gearbeitet hat.