Brigitte Wustrau

geb. 4. Dez. 1947 in Hemmersdorf

Foto: Nicole Fürst

Foto: Nicole Fürst

Brigitte Wustrau, die bis dahin literarisch nicht in Erscheinung getreten ist, legt 2022 im Alter von 75 Jahren ihre erste Buchveröffentlichung vor. Der Roman „Stadtschreiber“ ist ein originär literarisches Werk, abseits der marketingorientierten Regionalliteraturwelle und der üblichen Lebensrückblicke von ausschließlich privatem Interesse.

Brigitte Wustrau, geborene Racke, wird 1947 im saarländischen Hemmersdorf als eines von vier Kindern geboren. Hemmersdorf, damals eine selbständige Gemeinde, ist seit der Gebietsreform 1974 Teil der Gemeinde Rehlingen, dann Rehlingen-Siersburg im Kreis Saarlouis. Brigitte Wustraus Vater Albert Racke, gelernter Schustermeister, ist in der Kirchengemeinde in Hemmersdorf als Organist und Küster beschäftigt. Die Mutter Pauline Racke ist Hausfrau. Die Familie ist 1937 von Rieden in der Eifel ins Saarland gezogen. Die Erzählungen ihres Vaters über die Kriegsjahre beschäftigen die Autorin bis heute und fließen in ihre Texte mit ein.

Sie besucht in den 50er Jahren die Grundschule in Hemmersdorf, danach die Handelsschule in Dillingen. Arbeitet als medizinische Schreibkraft bei verschiedenen Ärzten im Kreis Saarlouis, geht 2011 in Rente. Sie ist Mutter von drei Kindern.

Brigitte Wustrau hegt von jeher großes Interesse an Literatur und Germanistik. Seit ihrer Schulzeit schreibt sie regelmäßig, zunächst Tagebuch, dann Gedichte, dann Kurzgeschichten, die aber nicht zur Veröffentlichung kommen. Im Herbst 2022 erscheint von zwei zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Romanen zuerst der zweite, „Stadtschreiber“.

Für diesen Roman versetzt die Autorin sich in die Rolle eines Mannes von Mitte dreißig, der Stadtschreiber in einer schwäbischen Kleinstadt geworden ist. Er selbst stammt aus einem nicht näher bezeichneten Dorf in der Nachbarschaft zu Lothringen. Dem Stadtschreiber wird für ein Jahr eine kleine Wohnung in einem Turm zugewiesen. Erwartet wird, dass er am Ende seine Beobachtungen vorlegt.

Die Position im Turm erweckt literaturgeschichtliche Reminiszenzen, die im Roman auch angesprochen werden: Till Eulenspiegel, der Narr als Turmwächter; der Hölderlin-Turm in Tübingen, den der kranke Dichter 36 Jahre lang bewohnt; das „Türmer“-Gedicht aus Goethes „Faust“: „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“.

Für den Stadtschreiber wird der Turm zum selbstgewählten Verlies. Er ist ein seelisch Beschädigter, der wegen seines Klumpfußes von der Familie ausgegrenzt worden ist. Das Klima in der Familie war geprägt vom Sichanschweigen der Erwachsenen, engeren Kontakt hatte der Junge nur zum Großvater.

Als Turmschreiber hat er kaum Kontakt mit den Bewohnern der Stadt, am liebsten bleibt er in seiner Wohnung und schaut von hoher Warte auf die Welt hinab, registriert den Wechsel der Jahreszeiten, beobachtet das Leben auf der Straße, erinnert sich an seine Kindheit.

Zunehmend sieht der Stadtschreiber sich in der Tradition der mittelalterlichen Turmwächter, die vor Feuer und sich nahenden Feinden warnen sollten. Auch er wäre gern ein Mahner. Er erinnert sich daran, wie stolz die Großmutter auch nach dem Krieg noch darauf war, dass ihr Mann als Wärter im KZ Buchenwald gearbeitet hat, und er beobachtet auch in der gastgebenden Stadt, dass die Nazi-Zeit hier nicht aufgearbeitet wird. Das würde er in seinem Stadtschreiber-Bericht gern aufgreifen, aber ihm ist aufgetragen worden, die schönen Seiten der Stadt herauszuarbeiten und die Epoche der 30er Jahre möglichst zu übergehen.

So bekommt das Psychogramm eines seelisch Geschädigten eine politische Dimension. In die Erinnerungen des Stadtschreibers sind auch Teile der Familiengeschichte von Brigitte Wustrau eingegangen. Auffallend an der intensiven Prosa des „Stadtschreiber“-Romans sind grammatikalische Eigentümlichkeiten, bei denen die Lyrikerin durchschimmert.

Im gleichen Jahr wie seine Mutter legt auch Christian Wustrau, bisher als Liedermacher und Autor von pädagogischer Fachliteratur hervorgetreten, mit „Wo die Reise beginnt“ seinen ersten Roman vor. (RP)