Louis Aragon

geb. 3. Okt. 1897 in Paris, gest. 24. Dez. 1982 ebenda

Aragons „Karwoche“ ist eigentlich ein historischer Roman, der in der Woche von Palmsonntag bis Ostersamstag des Jahres 1815 spielt, als Napoleon von Elba zurückkehrt und König Ludwig XVIII. flieht. Doch gelegentlich durchbricht der Autor die Erzählung durch einen „Anachronismus seines eigenen Lebens“ (Hans Mayer), und so spielt eine autobiographische Episode „im Frühjahr oder gegen Winterende 1919“, als Aragon, 22 Jahre alt, als Besatzungssoldat im Saargebiet eingesetzt ist. Literarisch arbeitet er zu dieser Zeit u.a. mit Philippe Soupault zusammen.

Die Episode im Roman: Auf einer Grube „in der Gegend von Völklingen“ weigert sich die Nachtschicht einzufahren, nachdem diejenigen, die nach oben gekommen sind, mitgeteilt haben, „in den Stollen sei irgendetwas nicht in Ordnung, ich weiß nicht was, an der Holzverschalung, oder es sickerte etwas durch“. Es kommt zur Auseinandersetzung mit den französischen Wachoffizieren, ein deutscher Ingenieur versucht zu vermitteln. Aragon „begriff alles sehr schlecht, nicht einmal in Frankreich hatte ich je ein Bergwerk gesehen. Die Arbeiter …um die hatte ich mich bis dahin nicht gekümmert.“ Ein Unterleutnant flüstert ihm zu: „Schauen Sie sich doch die Leute an, Doktor …diese Boche-Gesichter!“ Der Hauptmann ist „sehr verärgert“, er denkt: „Sind wir die Sieger, oder sind wir es nicht? Frankreich braucht Kohlen. Ich kenne nur das…“ Es droht eine Eskalation, Schusswaffengebrauch. „[…] in diesem Augenblick spürte ich in mir jäh, dass diese drohenden Unbekannten, diese Boches an jenem Abend recht hatten, dass ihr Widerstand menschlich groß und menschlich edel war.“ Es kommt nicht zum Äußersten, die Bergleute werden nicht gezwungen einzufahren. Der Autor kehrt nach Hause zurück und liest einen deutschen Roman, „Der Golem“ von Meyrink. „Später, sehr viel später hatte ich das Gefühl, jene Nacht sei in meinem Schicksal schwer in die Waagschale gefallen.“ Soll heißen: Hier erwachte Aragons soziales Gewissen, das ihn später in die Reihen der französischen KP führte.

Aragon verweist an dieser Stelle auch auf ein Gedicht, das er „damals im Vorort Burbach von Saarbrücken neben dem Stahlwerk geschrieben“ hat. Dieses Gedicht, dessen Schlussverse er im Roman zitiert, hat allerdings keinen inhaltlichen Zusammenhang zu den Ereignissen von 1919, es verweist auf ein Erlebnis im Sommer 1916 („Lever“, veröffentlicht im Gedichtband „Feu de joie“, 1920). Nicht erwähnt wird von Aragon hingegen ein anderes Gedicht, das in jener Zeit in Saarbrücken spielt. „Bierstube Magie allemande“ bezieht sich auf ein Saarbrücker Militärbordell mit der Ortsangabe: „Sofienstrasse“, und: „Dans le quartier Hohenzollern / Entre la Sarre et les casernes“, wo das lyrische Ich sich in der Nähe einer gewissen Lola ausgestreckt hat. Hier wird übrigens, noch vor Friedrich Hollaenders Song von der „Feschen Lola“ – im Film „Der Blaue Engel“ 1930 gesungen von Marlene Dietrich – „Lola“ auf „Pianola“ gereimt. Verführt hat ihn ein reizender Nacken, so dass sich eine interessante Gelegenheit zum Reimen ergibt, nämlich „nuque“ (Nacken) auf „Demoiselle de Sarrebrück“. Der biografische Hintergrund: Aragon, als junger Mann selber ein chronischer Bordellbesucher, hatte als militärischer Hilfsarzt seinerzeit den Auftrag, die Frauen für das Saarbrücker Etablissement auszusuchen. – In Saarbrücken beginnt Aragon mit der Abfassung der Erzählung „Les Aventures de Télémaque“ (Veröffentlichung 1922).

Der Roman „La Semaine Sainte“ („Die Karwoche“) erscheint 1958, die deutsche Übersetzung von Hans Mayer kommt 1961 heraus (die fragliche Episode findet sich in der Ausgabe des Ostberliner Verlags Volk und Welt auf den Seiten 358 bis 361). (RP)