Völklingen
Keine andere saarländische Kommune hat ein so eindimensionales Image: Völklingen war jahrzehntelang die „Hüttenstadt“, jetzt ist es eben die ehemalige Hüttenstadt, und auch ihr heutiges alles überragendes Wahrzeichen trägt die Hütte weiterhin im Namen: „Weltkulturerbe Völklinger Hütte“.
Über all der Beachtung, die das Industriedenkmal auf sich zieht, darf man nicht vergessen, dass es daneben immer noch einen munter weiter produzierenden Teil der Stahlproduktion gibt. Und dass auch die Hüttenstadt eine der ältesten Ortschaften im Saarland mit einer überwiegend montanindustriefernen Geschichte ist, die auch Ortsteile mit eher ländlichem Charakter besitzt.
Die Hütte war mehr als irgendein großer Industriebetrieb auf dem Territorium der Stadt: „[…] nicht nur, dass ein großer Teil der erwerbstätigen Bewohner auf der Hütte arbeitete und das Wohlergehen von Gemeinde, Handel und Gewerbe von der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens abhing, mit Bildungs-, Freizeit- und Sozialeinrichtungen und einer umfangreichen Wohnungsbaupolitik haben die Röchlingschen Eisen- und Stahlwerke auch das Alltagsleben außerhalb der Arbeit und die Stadt selbst geprägt“ (Harald Glaser). Die schmerzlichen Umwandlungsprozesse der Nach-Montan-Ära in Völklingen sind die Extremform dessen, was viele saarländische Kommunen durchmachen.
Dass hier in der fruchtbaren Saaraue, am Knotenpunkt wichtiger Verkehrswege, schon zu Zeiten der Kelten und Römer rege Aktivität geherrscht hat, kann man mit Sicherheit annehmen. Urkundlich belegt ist die Siedlung unter dem Namen „Fulcolingas“, woraus später „Völklingen“ wurde, erstmals im Jahr 822. In der Folgezeit war „folckelingen“ eines der größeren Dörfer in der Grafschaft Saarbrücken mit Landwirtschaft, Fischerei und Handwerk. Doch frühe Eisen- und Kohlefunde wiesen schon in die Zukunft. Im heutigen Völklinger Stadtteil Geislautern entstand 1572 die älteste Eisenschmelze des Landes, ein halbes Jahrhundert später begann der Abbau der Steinkohle im Übertagebau.
Die Röchling-Ära
Nachdem schon die Saarbrücker Fürsten im 18. Jahrhundert den Kohleabbau verstaatlicht und systematischer als bisher betrieben hatten, brachte Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst Frankreich Schwung in die technologische Entwicklung. Als der Bereich des heutigen Völklingen als linksrheinisches Gebiet französisch geworden war, siedelte Napoleon 1807 eine der zwei Berg- und Hüttenschulen des Kaiserreichs mit Forschungsauftrag zur Weiterentwicklung dieser Industrien in Geislautern an. Und als nach Waterloo das französische Saar-Département zur preußischen Rheinprovinz geworden, zog preußische Ordnung und zogen Führungskräfte aus Preußen in den Saar-Bergbau ein.
Die Stahlindustrie in Völklingen aber blieb in privater, gar in saarländischer Hand. Den entscheidenden Schub bekam sie 1881, als die Familie Röchling die Eisenhütte übernahm. Das Werk expandierte, schuf Arbeitsplätze, machte sich in der Stadt breit.
Bis heute umstritten ist die Persönlichkeit von Hermann Röchling, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Leitung des Familienunternehmens eintrat. Sein Name steht einerseits für erfolgreiche Unternehmensführung, technologische Neuerungen, Schaffung sozialer Einrichtungen. Andererseits beteiligte er sich im Zweiten Weltkrieg als „Wehrwirtschaftsführer“ in vorderster Linie an der militärischen Aufrüstung, engagierte sich für den Nationalsozialismus, war als Vorsitzender der „Reichsvereinigung Eisen“ an der Rekrutierung und Verschleppung von Zwangsarbeitern aus den besetzten Ländern Europas in die Eisen- und Stahlwerke des gesamten Deutschen Reichs beteiligt. Nach dem Krieg wurde Hermann Röchling von einem französischen Militärgericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber schon 1951 vorzeitig entlassen mit der Auflage, das Saarland nie mehr zu betreten.
1956, ein Jahr, nachdem er in Mannheim gestorben war, wurde der Völklinger Stadtteil Bouser Höhe in Hermann-Röchling-Höhe umbenannt. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wurde diese Namensgebung in einer heftigen öffentlichen Kontroverse in Frage gestellt. 2013 entschied sich der Stadtrat für eine Kompromisslösung, der Stadtteil heißt nun „Röchling-Höhe“, in Erinnerung an die Unternehmerfamilie insgesamt, ohne Hervorhebung der problematischen Persönlichkeit von Hermann Röchling.
Ansonsten wird ausgerechnet in einer Kirche an die Röchlings erinnert. In der Erlöserkirche, seit 1968 „Versöhnungskirche“, als seinerzeit einziges evangelisches Gotteshaus in Völklingen schlicht „Stadtkirche“ genannt, erbaut 1926-28, gibt es ein Deckengemälde mit dem Titel „Siegeskraft des Kreuzes und Evangeliums“, das als „Apotheose der Röchlings“ apostrophiert worden ist.
Das Werk des Münchner Malers Waldemar Kolmsperger d. J. zeigt den Tag der Auferstehung mit einem Christus in Völklinger Industrielandschaft sowie unter anderem sieben Mitglieder der Röchling-Familie. Hermann Röchling als Hauptfinanzier des Kirchenbaus (1926-28) und Auftraggeber des Deckenfreskos (1935-37) ist nicht dargestellt, aber der seine Fesseln abstreifende Adler ist ein Verweis auf die von ihm betriebene Rückgliederung des Saargebietes ans Deutsche Reich. Für Irritationen hat auch immer wieder eine von vier Figuren am Giebelfeld an der Westseite der Kirche gesorgt: ein Soldat mit Handgranate, einen verwundeten Kameraden schützend, als Symbol der Treue. Der in der Völklinger Hütte gegossenen Figur wurde in den 1980er Jahren im Zuge einer Restaurierung die Handgranate abgesägt, bald aber auf Presbyteriumsbeschluss wieder angeschweißt.
Stadt im Wandel
Mitte der 1970er Jahre beendete die weltweite Stahlkrise die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung in Völklingen. Es kam zu einem drastischen Abbau von Arbeitsplätzen, zumal auch im Bergbau Arbeitsplätze verloren gingen. 1986 ging in Völklingen der letzte Hochofen aus, das Roheisen wird nun von der Dillinger Hütte bezogen.
Völklingen wurde zum Synonym für Krise. Die Stadt musste versuchen, sich neu zu erfinden.
Die Hütte, einst das pulsierende Herz der Stadt, war zum unübersehbaren Wahrzeichen für eine abgeschlossene Phase der Industrialisierung, vielleicht der Industrialisierung überhaupt geworden. Viele hätten den stählernen Koloss am liebsten aus der Völklinger Skyline getilgt. Aber schon früh bemühte sich die Initiative Völklinger Hütte darum, den Abriss der Hochofengruppe zu verhindern und mit kulturellen Veranstaltungen eine mögliche Nutzung der Anlagen vor Augen zu führen. Nachdem die Roheisenphase zunächst vom Saarländischen Denkmalamt unter Denkmalschutz gestellt worden war, wurde sie 1994 von der Unesco als einzigartiges technikgeschichtliches Zeugnis zum Weltkulturerbe erklärt.
Völklingen ist aber immer noch Hauptsitz der Saarstahl AG, die auf Umwegen an die Stelle des Röchlingschen Familienunternehmens getreten und weiterhin produktiv ist. 1980 wurde ein neues Blasstahlwerk zur Herstellung hochspezialisierter Qualitätsstähle mit mehreren Walzstraßen in Betrieb genommen. Im Übrigen sucht die Stadt nach Wirtschaftsfeldern außerhalb der alten Industrien, die Meeresfischzucht ist ein Beispiel dafür.
Der wirtschaftliche Niedergang der Stadt wurde flankiert durch städtebauliche Sünden und Fehlentscheidungen wie die Südtangente oder das „Globus“-Einkaufszentrum, das wie ein Riegel vor dem Weltkulturerbe liegt. Dem Image als „hässlichste Stadt Deutschlands“, wie Völklingen 1993 von RTL tituliert wurde, versucht man durch die Revitalisierung der Innenstadt, aber auch durch kulturelle Initiativen entgegenzuwirken.
Dabei erweist es sich als Geschenk, dass die Alte Hütte nicht nur als Denkmal erhalten worden ist, sondern auch als größter Kulturveranstalter unter anderem durch spektakuläre Ausstellungen (2017 „Inka: Gold, Macht, Gott“) jeweils Hunderttausende Besucher nach Völklingen zieht.
Daneben sind viele andere Veranstalter bemüht, mit Kulturangeboten auf unterschiedlichem Niveau das Image der Stadt zu verbessern. Die Stadtverwaltung, die auch die Stadtbibliothek und die örtliche Volkshochschule vorhält, will als Koordinatorin des Projekts „Kulturmeile“ die Verbindung zwischen den verschiedenen Veranstaltungsorten herstellen. Der Theaterverein „Titania“ ist ein Amateurtheater, das der Schauspieler und Regisseur Jürgen Reitz im Alten Bahnhof initiiert hat. Auch der Verein KulturGut (Verein zur Förderung von Kultur und Kommunikation in Völklingen e.V.) will mit seinem Kulturprogramm zeigen, dass es inzwischen ein anderes Völklingen gibt, das „mehr als nur Weltkulturerbe“ ist. Eine private Homepage trägt den programmatischen Titel: „Völklingen im Wandel“.
Völklingen literarisch
Literatur spielt dabei nicht die herausragende Rolle. Der von der VHS Völklingen seit 1995 durchgeführte, bundesweit ausgeschriebene Wettbewerb um den „Völklinger-Senioren-Literaturpreis“ wurde 2010 nach neun Durchgängen eingestellt. Völlig vergessen ist in Völklingen der hier geborene Mundartdichter Hanns Glückstein (1888-1931), der allerdings auch früh nach Mannheim zieht und in seinen Texten das Lebensgefühl der Kurpfälzer zum Ausdruck bringt.
Literarische Erwähnung fand Völklingen beim französischen Schriftsteller Louis Aragon (1897-1982). Eine Episode seines Romans „Die Karwoche“ (1958) spielt unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg auf einer Grube „in der Gegend von Völklingen“, wo es zu einer Auseinandersetzung zwischen Bergleuten und französischem Militär kommt. Die Episode ist autobiographisch und für ihren Verfasser durchaus nicht nebensächlich, denn sie ist „in meinem Schicksal schwer in die Waagschale gefallen“.
Im Abstimmungskampf um das Saar-Referendum 1935 ist der kommunistische Autor Theodor Balk (1900-1974) für Recherchen zu seinen Reportagen auch nach Völklingen gekommen. Dabei gelingt es Balk als quasi „frühem Günter Wallraff“ (Ralph Schock), auch zu Hermann Röchling vorzudringen, der sich in vorderster Reihe für den Anschluss an Hitler-Deutschland engagiert, und ihm verräterische Äußerungen zu entlocken.
Der Roman- und Reiseschriftsteller Wolfgang Koeppen (1906-1996) kommt nach dem „Tag X“ von 1959, an dem die wirtschaftliche Eingliederung des Saarlands in die Bundesrepublik samt Übernahme der D-Mark wirksam wurde, nach Völklingen und notiert: Hier „drohen die Schlote der Röchling-Werke den engen Spitzweggassen und legen über die alte Stadt eine immerwährende Wolke schwefelgelben Rauches“. Und er staunt über das Nebeneinander von deutschen und französischen Kultureinflüssen.
Ein anderer Reiseschriftsteller, der Saarländer Heinz Helfgen (1910-1990), ist, an der Auflage seiner Bücher gemessen, wohl der erfolgreichste Schriftsteller des Saarlandes. Helfgens Name ist verbunden mit dem Titel seines bekanntesten Buches: „Ich radle um die Welt“. Der gebürtige Friedrichsthaler lebte in den Jahrzehnten vor seinem Tod in Völklingen.
1997 wurde eine Ausstellung gezeigt über „Ein Frauenleben in Völklingen“; es war eine Zusammenstellung von Texten, Bildern und Gebrauchsgegenständen aus der Biographie einer fiktiven „Gerti Jost“, deren Vater und deren Ehemann Hüttenarbeiter waren, während der Freund der Tochter eine „Abrechnung mit Hermann Röchling“ herausgab (das Werk von Frank Kramer aus dem Jahr 1984 existiert tatsächlich); zu der Ausstellung über Gerti Jost erschien auch eine Katalog-Broschüre. Was Arbeitslosigkeit bedeutet, hat der Völklinger Autor Jürgen Kück, der es am eigenen Leib erfahren hat, 1999 in einem Buch geschildert.
Aus Völklingen stammen die Lyrikerinnen Ruth Rousselange (Jahrgang 1967) und Nelia Dorscheid (Jahrgang 1981). Auch der experimentelle Dichter Konstantin Ames (Jahrgang 1979) ist gebürtiger Völklinger und hat einen Text auf die Stadt geschrieben. Der Wissenschafts- und literarische Autor Bernd Philippi (Jahrgang 1943) lebt in Völklingen. ZITAT
Ortsteile von Völklingen sind Fenne, Fürstenhausen, Geislautern, Heidstock, Röchlinghöhe, Lauterbach, Ludweiler, Luisenthal, Stadtmitte, Wehrden.