Peter Wust
geb. 28. Aug. 1884 in Rissenthal, heute Ortsteil von Losheim am See, gest. 03. April 1940 in Münster; begraben auf dem Friedhof von Münster-Mecklenbeck
In den 1950er Jahren brachte es der „christliche Existenzphilosoph“ Peter Wust im katholischen Saarland als Motiv auf eine Saar-Briefmarke, wie Marschall Ney aus Saarlouis, der Alte Turm in Mettlach oder die Saarschleife. Zeichen einer großen Wertschätzung des Landes für seinen einzigen Philosophen.
Politisch könnte Peter Wust mit seinem rheinländisch geprägten Katholizismus ein geistiger Vater der westdeutschen Christdemokratie sein. Explizit politisch hat er sich aber nie geäußert, jedoch deutlich gemacht, dass er den Kommunismus ablehnte, als “geistige Irrwege” aber auch die Reformation, den Protestantismus und die Aufklärung. Der Nationalsozialismus, dessen Herrschaft sechs Jahre lang die Arbeits-und Lebensbedingungen des Philosophen bestimmte, verkörperte für ihn den „Antichrist“.
Peter Wusts philosophische Entwicklung lässt sich nachvollziehen in seinen wichtigsten Werken: „Die Auferstehung der Metaphysik“ (1920), „Naivität und Pietät“ (1925), „Die Dialektik des Geistes“ (1928) und „Ungewissheit und Wagnis“ (1937). Letzteres, laut Wust, 1936 in wenigen Wochen heruntergeschrieben, wie eine „Entladung“. Die wichtigsten Stationen seiner Entwicklung waren der Verlust des katholischen Glaubens, die Abkehr vom Neukantianismus und die Wiederentdeckung der Metaphysik unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Anschließend die Rückkehr zum katholischen Glauben – „in die Arme der Una sancta Ecclesia“ – und zur Vorstellung eines persönlichen Gottes.
Das Tor zur Weisheit
Die Freundschaft mit führenden Denkern und Literaten der französischen Erneuerungsbewegung Renouveau Catholique in einer Zeit, als Deutschland und Frankreich sich in tiefster „Erbfeindschaft“ gegenüberstanden. Schließlich – schon im Angesicht des Todes, denn Peter Wust ging langsam an Krebs zugrunde – die allerletzte Bilanz, dass der Schlüssel zum „Tor der Weisheit“ nicht die Reflexion sei, „sondern das Gebet. Das Gebet, als letzte Hingabe gefasst, macht still, macht kindlich, macht objektiv. […] Gebet kennzeichnet alle letzte ‚humilitas des Geistes.‘ Die großen Dinge des Daseins werden nur den betenden Geistern geschenkt. Beten lernen aber kann man am besten im Leiden.“ Peter Wust schrieb dies in seinem letzten Abschiedswort an seine Freunde und Schüler am 18. Dezember 1939. Und dabei blieb er bis zum Schluss, zwei Wochen, bevor er starb: „Im Angesicht des Todes und im Blick auf das Kreuz ist alle Philosophie ein entbehrlicher Luxus […]“
War das nun die Abkehr von der Philosophie, die zu betreiben er ein Leben lang gekämpft hatte? Die Begegnung mit dem Geburtshaus in Rissenthal inspirierte Jahrzehnte später Gerhard Tänzer zu einem “Sonett auf Herrn Wust aus Rissenthal”. ZITAT
Sein Lebenslauf ist in dürren Daten schnell dargestellt: Geboren 1884 in Rissenthal, heute Ortsteil von Losheim am See; den See gab es damals noch nicht, auch nicht das Saarland; Wusts Heimat lag im Regierungsbezirk Trier und gehörte zum Deutschen Kaiserreich. 1898 Entlassung aus der Volksschule Rissenthal, 1900 Eintritt ins Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und gleichzeitig ins Bischöfliche Konvikt in Trier. 1907 Abitur und Beginn eines Studiums der Germanistik und Anglistik in Berlin. 1910 Staatsexamen an der Universität Straßburg. Im selben Jahr Heirat mit der Püttlingerin Käthe Müller; das Paar bekommt einen Sohn (Benno, 1911) und zwei Töchter (Else, 1914, und Charlotte, 1919). 1914 Promotion zum Dr. phil. mit der Dissertation „John Stuart Mills logische Grundlegung der Geisteswissenschaften“. Bis 1930 Tätigkeit als Gymnasial- bzw. Oberrealschullehrer in Berlin, Neuss, Trier und Köln. Ab 1930 Ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Münster. Der Kampf gegen den Krebs macht es ihm unmöglich, seine Lehrtätigkeit weiterzuführen; am 16. Februar 1939 verabschiedet er sich in der Morgenvorlesung von seinen Studenten und Studentinnen.
Wie er hingelangte zur Philosophie, erzählt Peter Wust in seiner Autobiographie „Gestalten und Gedanken“. Die schrieb er in den letzten Monaten vor seinem Tode, in Kenntnis der Diagnose seiner nicht mehr zu heilenden Krankheit. In diesem Werk erweist er sich als ein zwar bedächtiger, aber ergreifender Erzähler, es wurde ein spannendes Stück Literatur. Zum einen, weil er das Dorf und die Umgebung seiner Kindheit, das „armselige Bauerndorf“ Rissenthal, und das harte Leben der Menschen dort in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts empathisch und eindringlich schildert. Zum anderen, weil er sichtbar macht, dass die großen Wenden zum Guten in seinem Leben stets mit der Hilfe ihm wohlgesonnener Persönlichkeiten verbunden waren.
„Universität“ Rissenthal
Im Anfang waren es die katholischen Dorfgeistlichen, von deren Beobachtungsgabe und Weitsicht auch Peter Wusts Lebensweg nach der Schule abhing. In diesem Teil Deutschlands war das ganz selbstverständlich. Am Bischöflichen Konvikt war es Prälat Anheier, der es mit der Disziplin zwar übertrieb, dem neuen Schüler aber einen neuen Mantel schenkte, für den der Vater kein Geld hatte. Am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Trier war es der Historiker und spätere Stadtbibliothekar Gottfried Kentenich (1873–1939). An der Universität Berlin öffnete der Pädagoge und Philosophie-Professor Friedrich Paulsen (1846-1908) das Tor zur Wissenschaft. 1911 schuf Oswald Külpe, Psychologe und Philosoph an der Universität Bonn (1865–1915), mit der Vergabe eines Dissertationsthemas über den britischen Ökonomen und Philosophen John Stuart Mill (1806–1873) für Peter Wust die Möglichkeit, neben dem ungeliebten Lehrerberuf wissenschaftlich zu arbeiten.
Der Protestant Ernst Troeltsch (1865-1923) wies ihm als Professor für Religions-, Sozial- und Geschichtsphilosophie und Christliche Religionsgeschichte an der Universität Bonn den Weg zur Wiederentdeckung der Metaphysik als ein Mittel, die Katastrophe des Ersten Weltkrieges geistig zu bewältigen. Schließlich nennt Peter Wust auch Max Scheler (1874–1928), den Philosophen, Anthropologen und Soziologen an der Universität Köln, als wichtigen Impulsgeber; unter seinen Mentoren sicherlich die schillerndste Wissenschaftler-Persönlichkeit. Eine tiefe Freundschaft und kreative Korrespondenz verband Peter Wust mit dem elsässischen Schriftsteller und Seelsorger Karl Pfleger (1883–1975). Auch im Briefwechsel mit dem saarländischen Dichter und Schriftsteller Arthur Friedrich Binz von Ende November 1897 bis zu dessen frühem Tod im Dezember 1932 entwickelte sich ein sehr persönlicher philosophischer Diskurs.
Die wichtigste „Universität“ war für Peter Wust jedoch sein Rissenthal.
Peter Wust war das erste von elf Kindern des Siebmachers Jakob Wust und seiner Frau Anna Fexmer. Die Wusts waren arme Leute; der Vater verdiente den Unterhalt, indem er seine handwerklichen Erzeugnisse als Hausierer unter die Leute brachte. Nebenher betrieb die Familie etwas Landwirtschaft. Peter schlug von Anfang an aus der Art, denn er wollte unbedingt Bücher lesen und studieren. Die Sehnsucht danach machte ihm das Leben vom sechsten Lebensjahr an regelrecht zur „Qual“. Der Pastor von Rissenthal hörte, wie der Junge zum Jesuskind betete, ihm doch ein Buch zu schenken. Er gab ihm eines aus seiner Bibliothek. Es waren griechische Sagen. In seinem Hunger nach geistiger Nahrung schrieb der kleine Peter sogar einen Brief an den deutschen Kaiser. Der aber reagierte ganz anders als der Pastor; er schickte nicht nur keine Bücher, sondern ließ das Kind auch ordentlich zurechtweisen. Das traurige Beispiel eines jungen Mannes aus dem Dorf vor Augen, der sich erhängte, weil er nicht studieren durfte, richtete Peter Wust sich 1898 nach der Entlassung aus der Volksschule darauf ein, als Bauer sein Leben fristen zu müssen. Beim Bestellen des Ackers und beim Vieh Hüten wurde der alte Nikolaus Portz sein erster Philosophie-Lehrer. ZITAT
Doch wieder kam Hilfe. Johann Braun, der Pastor von Wahlen, übernahm es, den Jungen auf die Aufnahmeprüfung am Gymnasium vorzubereiten. Zwei Jahre lang paukte er mit ihm vor allem Latein im Wahlener Pfarrhaus und regelte auch das Finanzielle. Anderthalb Jahre lang lief Peter Wust täglich die vier Kilometer zum Wahlener Pfarrhaus und wieder zurück; das letzte halbe Jahr wohnte er bei zwei Großtanten in der Wahlener Krämergasse, die den Jungen mit allerlei Gruselgeschichten über die Umgebung versorgten. ZITAT
1900 bestand er die Aufnahmeprüfung am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Trier. Gleichzeitig trat er ins Bischöfliche Konvikt ein; die Eltern gingen davon aus, dass ihr Sohn Theologie studieren und Priester werden würde.
Peter Wust aber verließ das Konvikt und ging nach dem Abitur nach Berlin, um Germanistik und Anglistik für das höhere Lehramt zu studieren. Das verzieh ihm sein Vater nicht; für ihn war sein Sohn ein Abtrünniger. Die Wahl des Lehrerberufes erwies sich als verfehlt; er wurde immer mehr zur Fessel, blieb aber eine Notwendigkeit, denn es musste die Familie ernährt werden. Den Anteil, den seine Frau Käthe daran hatte, lässt er unerwähnt. Nicht einmal ihren Namen nennt er, als er von seiner Familiengründung berichtet.
Ungewissheit und Wagnis
Das Lehramt war der „Brotberuf“, für ihn und seine Familie. Seinen Traum von einer wissenschaftlichen Laufbahn als Philosoph ordnete er dem unter. Aber der Konflikt, der ihm aus einem „verfehlten Berufsleben“ erwuchs, ließ ihm „wie über Nacht die große Lebensproblematik überhaupt sichtbar“ werden, „die den eigentlichen Inhalt aller Philosophie ausmacht, die Frage: ‚Was ist der letzte und tiefste Sinn des Lebens überhaupt?‘, ‚Was ist der Mensch?‘” Und wieder kam Hilfe, und wieder eine große Wende. Peter Wust wurde zum Ordinarius für Philosophie an die Universität Münster berufen – ohne habilitiert zu sein. Der Kultusminister Preußens, Adolf Grimme, setzte die Berufung gegen den Willen der Fakultät durch. Der Philosoph Peter Wust wirkte so überzeugend, dass er das formale Manko als sekundär erscheinen ließ. In Münster wurde er ein ebenso eloquenter wie beliebter Hochschullehrer.
Wie jeder Mensch, der nach Erkenntnis strebt, stand auch Peter Wust vor dem Dilemma zwischen Glauben und Wissen. „Ungewissheit und Wagnis“ hat Peter Wust sein philosophisches Hauptwerk überschrieben. Ungewissheit und Wagnis begegnen sich auch in dem Versuch, seine wichtigsten Aussagen auf den Punkt zu bringen. Der Mensch existiert auf einem Grat zwischen Geist und Natur. Grundbedingungen seiner Existenz sind Unruhe, Ungewissheit – auch im Sinne fehlender Sicherheit – und Wagnis. Was hat man sich darunter vorzustellen? Um es trivial zu sagen: Wenn der Mensch morgens aufsteht, weiß er (oder sie) nicht, was der Tag bringt. Er wagt es trotzdem, aufzustehen, weil er darauf vertraut, dass es der Mühe wert ist. Er wagt es, aus dem Haus zu gehen, obwohl er nicht weiß, ob ihn dann ein Auto tot fährt, ein Orkan ihn fortbläst oder ein böser Fremder ihn erschießt. Er steht also auf, verlässt sein Haus und macht weiter wie am Tag zuvor. Denn er verlässt sich darauf, dass alles gut geht. Warum? Nach Peter Wust ist da etwas, das den Menschen umfängt und leitet. Und wenn etwas nicht gut geht, empfindet der Mensch das zwar als Unglück, weil es seine Pläne durchkreuzt. Aber in Wirklichkeit ist es göttliche Vorsehung innerhalb eines ganz anderen Plans.
Die europäischen Intellektuellen, die auf die großen Existenzfragen eine andere Antwort hatten, waren für Peter Wust auf einem Irrweg; er forderte sie zur Umkehr auf. Für die Gestapo-Spitzel, die auch in seinen Vorlesungen Notizen machten, war zu hoch, was er ausführte. Doch noch auf dem OP-Tisch vor seiner ersten Krebs-Operation im Oktober 1938, so heißt es, sei es ihm wichtig gewesen, noch einmal zu betonen, dass er niemals sein Knie „vor Baal“ gebeugt habe!
Sein letztes Bild l zeigt Peter Wust abgemagert, ohne Haare und zahnlos auf dem Krankenlager, – aber noch immer lesend. Auf einem Zettel hat er, der nicht mehr sprechen kann, aufgeschrieben: „Hunger! Hunger! Hunger! Ich beschwöre Gott um meinen Tod.“ Er starb am 3. April 1940.
Nicht nur zum Bild auf einer Briefmarke ist Peter Wust geworden, sondern auch Romanfigur. Hermann Kasack ihn in seinem existenzialistischen Nachkriegsroman „Die Stadt hinter dem Strom“ (1947) dazu gemacht, in Gestalt des katholischen Philosophie-Professors Munster ZITAT
Eine etwas andere Peter-Wust-Rezeption, entstanden aus der philosophischen Auseinandersetzung und Distanzierung. Eine literarische Spur, die auch eine weniger Philosophie-affine Leserschaft noch heute auf den kleinen Mann mit den großen Gedanken und auf seinen Geburtsort Rissenthal neugierig macht, insbesondere im Zusammenhang mit Wusts Gestalten und Gedanken. (IP)