Lektorat – Texte im Stresstest

Von Peter M. Kruchten

Textpolierer, Optimierer aber auch Klugscheißer oder Über-Autor werden sie oft genannt, die Lektorinnen und Lektoren. Daraus spricht weder Respekt noch großes Vertrauen seitens der Autoren und Autorinnen, die schließlich lange um jede Formulierung, jeden Satz, jedes Kapitel ihres Texts gerungen haben. Sollen sie ihr „Baby“ nun noch einem Fremden ausliefern? Lektor ist weder akademischer noch Ausbildungsberuf, ist keine geschützte Berufsbezeichnung (genauso wenig wie Journalist, Redakteur, Grafiker …). Wodurch zeichnen sich seriöse Lektoren aus? Was können sie leisten, was dürfen Autoren erwarten? Und: gibt es Autoren, die tatsächlich kein Lektorat brauchen?

Die Medienwelt hat sich in den letzten vier Jahrzehnten stark verändert und mit ihr das Lektorat. Waren in den 1980er und 90er Jahren noch die Mehrzahl der Lektoren festangestellte Mitarbeiter in Verlagen, überwiegt heute die Zahl der freien Lektorinnen und Lektoren. Die unmittelbare Arbeit am/mit dem Text, früher klassischer Aufgabenbereich der Verlagslektoren, wird heute gerne nach außen gegeben an freie Lektoren. Dadurch sparen die Verlage Geld, und mehr Marketing- und Programmaufgaben, Probleme wie Rechteklärung und Produktionsbegleitung können von den Festangestellten übernommen werden.

Im Jahr 2000 gründete sich in Frankfurt/Main der Berufsverband der freien Lektorinnen und Lektoren (www.vfll.de). Er zählt heute ca. 1200 Mitglieder. Die Gesamtzahl der solo-selbständigen und freien Lektoren in Deutschland liegt deutlich höher. Die wirtschaftliche Bedeutung ihrer Tätigkeit ist beachtlich; der Branchenverband beziffert sie auf über eine Milliarde Euro pro Jahr. Im Saarland ist eine Handvoll Menschen ansässig, die Lektorat anbieten; was insofern aber nur eine untergeordnete Rolle spielt, als die digitalen Medien Lektoren wie Autoren „ortsunabhängig“ machen. Denn der direkte, persönliche Kontakt – etwa die Textdiskussion bei einer Tasse Kaffee – ist keinesfalls zwingend. Heute kann eine Lektorin in Portugal leben und eine Autorin in Saarbrücken beraten. Wir haben mit Ruven Karr und Alexandra Link, beide im Saarland ansässig, über Lektoratsfragen gesprochen.

In Saarbrücken hat der in Illingen gebürtige, promovierte Germanist Ruven Karr „Die Karrektur“ gegründet, ein Lektoratsunternehmen mit neun freien Mitarbeitern, darunter Dr. Moritz Klein (Studium der Komparatistik und Anglistik, Uni Saarbrücken), Svenja Fieting (Bibliothekswissenschaftlerin M.A., Schwerpunkt: Belletristik) und Dr. Birgit Siekmann (Studium der Geschichte und Germanistik, Schwerpunkt: corporate publishing). Karr selbst vermittelt Aufträge an diese freien Mitarbeiterinnen und erhält dafür eine Provision. Zu den selbständigen Lektorinnen im Saarland zählen des weiteren Angelika Lauriel (d.i. Angelika Lauer), Susanne Reeck oder Alexandra Link. Alle finden ihre Kunden in Deutschland, Österreich und der Schweiz; aus dem Saarland kommen die wenigsten (Alexandra Link: „In acht Jahren vielleicht zwei.“).

Sowohl „Die Karrektur“ als auch die Solo-Selbständigen bieten ein breites Spektrum an Leistungen in unterschiedlichen Sachgebieten an und verdeutlichen damit, was alles unter dem Begriff „Lektorat“ gefasst wird. Grundsätzlich ist zunächst zwischen Lektorat und Korrektorat zu unterscheiden. Während im Korrektorat lediglich formale Fehler korrigiert werden (Rechtschreibug, Grammatik, Zeichensetzung udgl.), muss der Lektor vor allem über solide Kenntnisse in den Bereichen Dramaturgie und Stilistik verfügen.

Korrektorat und Lektorat

Der Korrektor, sagt Alexandra Link, „muss jemand sein, der den Text noch nie gesehen hat … wenn man den Text nicht kennt, sieht man Fehler“ (Gespräch vom Juli 2023). Wer sich – wie ein Lektor – bereits intensiv mit einem Text auseinandergesetzt hat, überliest immer wieder die fehlende Silbe, den Buchstabendreher; vollständige Fehlerbeseitigung „kriegt ein Lektor nicht hin.“ Das Korrektorat ist also ebenso notwendig wie die Arbeit des Lektors; es sollte aber am Ende des Prozesses stehen. „Die Verlage, mit denen ich bis jetzt gearbeitet habe,“ sagt Link, „die haben Lektorinnen, die sich mit dem Text beschäftigen, dann gibt’s nochmal Lektorinnen, die speziell die Sachthemen anschauen, die was davon verstehen (von der jeweiligen Thematik) und recherchieren, und danach kommt auch immer noch ein Korrektor; anders kenn ich’s eigentlich nicht.“

Ruven Karr bringt den Unterschied zwischen Korrektorat und Lektorat auf die pragmatische Formel: „Lektorat ist eher Kunsthandwerk und Korrektorat eher Handwerk. In der Künstlersozialkasse zählen Lektoren zu den Künstlern, Korrektoren nicht“ (Gespräch vom Juni 2023).  Der Korrektor ist also eine Art ehrenwerter Erbsenzähler, ein akribischer Handwerker, der für ein (formal) perfektes Produkt garantiert.

Im Lektorat, sagt Karr, wird „schon relativ tief eingegriffen:“ Und Link meint: „Ein guter Lektor, eine gute Lektorin ist vor allen Dingen in Dramaturgie fit. Deshalb kann zum Beispiel meiner Meinung nach nicht jeder Deutschlehrer ein Buch lektorieren. Feindramaturgie, Kniffe, das muss man draufhaben, das macht den Beruf aus.“ Die Lektorin muss der Autorin erklären können, „warum es hakt … und sagen, das funktioniert an der Stelle nicht, weil …“

Von Diplomarbeit bis Kinderbuch

Unterschiedliche Textformen und Genres verlangen selbstverständlich entsprechendes Spezialwissen und Fachkenntnisse. Eine wissenschaftliche Arbeit (Fachpublikation, Diplom- oder Master-Arbeit) muss bestimmten Standards genügen die Fragestellung, Methodik oder die Argumentation betreffend. Zwar sind die meisten Lektoren Geisteswissenschaftler, Agenturen wie „Die Karrektur“ suchen aber den Aufträgen entsprechende Lektorinnen aus den jeweiligen Fachgebieten; es genügt eben nicht, „mit dem Vorwissen, das man hat auf diesem Gebiet“, an einen Text heranzugehen.

Die Saarbrückerin Alexandra Link lektoriert nicht nur allgemeine belletristische Texte. Sie ist selbst Autorin von Kinder- und Jugendbüchern und nutzt dieses Spezialwissen auch im Lektorat. Autorinnen von Kinder- und Jugendliteratur, für Link „die Königsdisziplin im Schreiben“, müssen „eine glaubwürdige, dreidimensionale und komplexe Perspektive“ einnehmen können – die eines Kindes oder eines Heranwachsenden. Das kindliche Ich verhält sich anders, reagiert anders auf die Umwelt, als ein erwachsenes Ich. Was sehe ich als Fünfzigjährige, wenn ich ein traditionsreiches Wiener Kaffeehaus betrete, was nimmt ein neunjähriges Mädchen in derselben Situation wahr?

Tiefes Eingreifen?

Im Lektorat werden Texte darauf überprüft, ob sie stilistisch, sprachlich ihre Zielgruppe erreichen, ob (in fiktionalen Texten) die Figurenzeichnung stimmig ist, die Handlungsdramaturgie nachvollziehbar oder genrekonform. Das kann unter Umständen zu dem angesprochenen „tieferen Eingreifen“ (Ruven Karr) führen. „Was eine Lektorin nicht machen darf, ist die Grundidee, den Plot zu kippen, zu sagen: wir machen alles anders. Das ist tödlich für die Geschichte, da würde ich jedem raten zurückzutreten“, erklärt Alexandra Link.

Auch dem Lektorat sind Grenzen gesetzt. Kein Autor, keine Autorin muss sich dem Urteil eines Lektors bedingungslos beugen. Es ist „völlig legitim“ (Link), dass Autoren auf der Unveränderbarkeit ihres Werks beharren; „denen empfehle ich, ins self publishing zu gehen und danach ein Korrektorat zu machen.“  Wer allerdings auf eine Veröffentlichung in einem größeren Verlag hofft, der „muss sehen, dass (er) auf Menschen trifft, die den Text verändern werden, und man tut gut daran zu vertrauen.“ Gute Verlagslektorinnen beispielsweise „kritisieren nicht nur konstruktiv, die bringen die Geschichte weiter, weil die ja auch daran interessiert sind, dass das Buch sich nachher verkauft.“ Denn das ist immer das Ziel eines Verlags und seiner Mitarbeiter: ein Produkt, das „sich verkauft“.

Damit ein Produkt ins Verlagsprogramm passt, müssen sich sowohl Autorinnen als auch Lektorinnen Zwängen beugen. Alexandra Link gibt ein Beispiel aus dem Jugendbuchbereich: „Als freie Lektorin habe ich mehr Freiheiten mit dem Text. Ich kann zum Beispiel sagen, wenn du (Autorin) möchtest, dass deine Protagonisten mit 15 oder 16 rauchen und trinken, dann ist das halt so. Eine Verlagslektorin hat eine Verantwortung, die würde direkt sagen: aus dem Schnaps machen wir Cidre und die Zigaretten lassen wir weg.“ Dieser (vermeintliche) Anpassungsdruck, die Scheu vor der Veränderung des eigenen Werks, lässt Autoren gelegentlich vor der Arbeit mit Lektoren zurückschrecken. Oder er befördert die Erkenntnis, dass „man“ es allein nicht schafft und ein Lektorat (vorab und vom Autor selbst bezahlt) helfen kann, solche Klippen zu umschiffen. Denn ein seriöser Lektor würde zumindest auf potentielle Probleme aufmerksam machen.

Erfahrungen

Wie erleben Autorinnen und Autoren die Zusammenarbeit? Drei Beispiele:

An ihre erste Zusammenarbeit mit einer Lektorin erinnert sich Carolin Römer – mittlerweile erfolgreiche Autorin einer auf sieben Bände angewachsenen Krimi-Reihe – noch gut und vor allem gerne. Denn sie hat aus den Diskussionen gelernt. „Um Fehler in einer Geschichte aufzuspüren, ist es wichtig, die Perspektive zu wechseln – raus aus dem eigenen Kopf, rein in den Kopf des Lesers.“

Frank P. Meyer, der für seine Romane und Erzählungen unlängst mit dem Grimmelshausen-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, sagt: „Ich habe in Sachen Lektorat gelernt, dass man manchmal tatsächlich noch kürzen kann, ohne dass das Buch/der Roman darunter leidet. Im Gegenteil: Man will ja als Autor oder Autorin am liebsten jeden Satz, jedes Wort verteidigen – ich muss aber zugeben, dass ich es jetzt schon ein paar Mal erlebt habe, dass der Lektor mir sagte: Die Stelle ist zu lang, kannst du die noch kürzen? … und ich erst dachte: Da gibt’s nix zu kürzen, es dann aber versucht habe, und nach der Kürzung feststellen musste: So wirkt die Stelle doch besser! Also: Kürzungsschläge des Lektorats ernstnehmen: manchmal treffen sie einfach zu!“

Auf langjährige Autorentätigkeit blickt auch der aus Kirkel-Limbach stammende Marcus Imbsweiler zurück. Der Vater der Max Toller-Krimis arbeitet auch als Musikredakteur, verfasst Programmhefte für Konzertveranstaltungen und veröffentlicht Sachbücher. Imbsweiler: „Meine drei bisherigen Verlage (Gmeiner, Conte, Wellhöfer) haben alle meine Texte lektoriert – ist ja nicht selbstverständlich – zum Teil sehr gründlich, worüber ich sehr dankbar war. Rückblickend hätte ich mir tatsächlich noch mehr Eingriffe oder zumindest Änderungsvorschläge gewünscht, aber natürlich muss man als Autor erst Erfahrung und Selbstbewusstsein sammeln, um mit so etwas umzugehen… Aktuell sitzen wir zu zweit an einem Sachbuch über klassische Musik, das ein möglichst breites Publikum ansprechen soll. Da ist die Kontrolle durch einen Lektor so wichtig wie noch nie, weil wir in unserer Betriebsblindheit einfach nicht einschätzen können, ob unsere Texte mit ihrem Fachvokabular überhaupt lesbar sind. Bei unserer letzten Besprechung zu zweit fiel mehrfach der Satz: „Das soll der Lektor entscheiden.“

Selbstbewusstsein und Kritikfähigkeit – das sind wichtige Eigenschaften, die Autorinnen mitbringen sollten, wenn sie gemeinsam mit einer Lektorin quasi „von außen“ auf ihre Arbeit schauen. Die wichtigste Voraussetzung für eine fruchtbare Zusammenarbeit bleibt aber gegenseitiges Vertrauen.

Vertrauenswürdigkeit

Vertrauen ist selbstverständlich die Basis in der Zusammenarbeit von Autor und Lektor. „Nicht alles, was auf dem Markt ist, ist qualitativ gut … es gibt schwarze Schafe, durchaus“, sagt Karr. Deshalb ist Transparenz ganz wichtig. Bei der Suche nach einem seriösen Lektor können sich Autoren an den Berufsverband wenden (www.vfll.de) oder sich direkt anhand der Lektoren- oder Agenturen-websites orientieren. Werden die Mitarbeiter mit Lebenslauf (eventuell sogar mit Foto), Berufserfahrung usw. vorgestellt, werden Preise für einzelne Leistungen genannt und ist ein persönlicher oder telefonischer Erstkontakt möglich, sollte man hoffen dürfen. Außerdem gilt: „Im freien Lektorat darf man nicht alle Namen nennen, man hat eine sehr strenge Schweigepflicht“ (Alexandra Link).

Missverständnisse

Zu den Pflichten einer Lektorin gehört es dagegen nicht, ein publikationsreifes Werk Verlagen anzubieten. „Leider bin ich kein Literaturagent“, sagt Ruven Karr, und Alexandra Link führt aus: „Wenn man bei den größeren Publikumsverlagen veröffentlichen will, das geht nicht ohne Literaturagentur. Die würden gar nichts lesen, was nicht von einer Agentur empfohlen oder geschickt wird.“

Über die Praxis des (vollumfänglichen) Lektorats hinaus geht auch das sog. ghost writing. „Im Lektorat greife ich in den (bereits bestehenden) Text ein, ich verändere, ich mache Vorschläge, ich kürze, ich korrigiere aber ich schreibe nicht selbst“ (Link). Es ist durchaus denkbar, dass ein Lektor auch Autorentätigkeiten übernimmt, wenn das gewünscht wird – allerdings sicher nicht zum üblichen Lektoratshonorar.

Dieser Beitrag wurde fertiggestellt im August 2023.