geb. 1957 in Neunkirchen, in Rohrbach aufgewachsen, lebt wechselweise in St. Ingbert-Rohrbach, Berlin und Neuseeland
Martin Bettinger aus Rohrbach skizziert, locker-flockig in Stil und Sprache, das Lebensgefühl und die Biographie seiner Generation.
„Bücher und Berge“ sind nach eigener Aussage die großen Leidenschaften von Martin Bettinger. Bevor er sich 1989 entschloss, als freier Schriftsteller zu leben und zu arbeiten, hatte er Philosophie und Germanistik für das Lehramt an Gymnasien studiert – in Saarbrücken sowie in Freiburg/Breisgau. Einen kurzzeitigen Selbstversuch im Lehramt brach er ab, freilich nicht ohne die Erfahrung einer Lehrprobe ausgesprochen bissig-ironisch literarisch nachzuzeichnen. Die Veröffentlichung dieser 1986 verfassten Satire auf den konventionellen Lehrbetrieb erfolgte erst 2017 in einem Sammelband über die Literatur der Stadt St. Ingbert. Nachdem er den Lehrerberuf an den Nagel gehängt hatte, verdingte er sich eine Zeitlang als Gehilfe im Dachdeckerhandwerk.
In den 1980-er Jahren gehörte Martin Bettinger zu Hans Arnfrid Astels Schreibwerkstatt, die später unter dem Namen „Saarbrücker Schule“ bekannt wurde. Bettingers erster Roman erschien 1986 als Fischer Taschenbuch. „Der Himmel ist einssiebzig groß“ bescherte ihm gleich überregionale Aufmerksamkeit. Erzählt wird darin die Geschichte von Marius, einem „Träumer am Trapez der Welt”, der zum Abschluss der Schule seine Schulbücher verbrennt und in einem See nach dem Stern taucht, wie es im Kamasutra beschrieben ist. Nachdem seine Suche in Kneipen und Betten, während des Studiums und der Arbeit in einer Fabrik erfolglos bleibt, nimmt er Abschied von Manon, der Sommerliebe, und macht sich auf die Reise nach „Atlantis“. Seine Radtour führt ihn zur Begegnung mit dem schizophrenen Carlos und dem Mönch Johannes, die ihm Ratschläge geben bei seiner Selbst-Suche. Dieser Aufbruch ins Erwachsenendasein, wie ihn Martin Bettinger bearbeitete, beschrieb und traf das Lebensgefühl seiner Generation.
Wies ihm der Erstlings-Roman die Richtung in die Existenz als Autor, so belegte sein nachfolgender Gedichtband „Dachschaden“, wie jedes „Erlebnis“, jede Beobachtung dem schöpferischen Prozess untergeordnet und einverleibt werden kann. Was allein zählt, ist die Fülle des Augenblicks, die Fähigkeit, Elend, Kargheit und unschöne Dinge als Basis der Kreativität zu nutzen. Freude am geglückten Wort, am perfekten Satz, am gelungenen Vers verschafft sich in den Gedichten Bettingers Ausdruck. Großen regionalen Bezug hat der 1999 erschienene Roman „Der Panflötenmann“, der Örtlichkeiten aus dem unmittelbaren Lebensumfeld von Martin Bettinger benennt. ZITAT
Zitate von Martin Bettinger
„Orgeln aus Eiszapfen und Zweige mit Pelzen aus Reif, die Geheimschrift gefrorener Pfützen und Atemfahnen wie weiße Fanfaren. Wir waren lange gewandert, über harte Waldwege und über sprödes, knisterndes Gras, als wir gegen Abend die Burg erreichten. Eigentlich war es nur ein Turm mit einigen Steinen drumrum, ein Schild wies trotzdem „Zur Burg“. Die Häuser, die sich zu ihrem Fuß an die kleine Anhöhe schmiegten, schienen nicht viel jünger zu sein. Kleine Hütten, an denen alles aus dem Lot gegangen war. Mauerwerk klaffte, Regenrinnen hingen herunter, und falls eine Front irgendwann verputzt worden war, blätterte sie. Burg hin oder her, der Fleck würde kein Touristentreff werden. Es sah auch nicht aus, als hätte jemand Interesse daran. „Zum Lottchen“ stand auf der Bierreklame über einem Lokal, wir gingen hinein.
Es war nicht viel los. Einer hing über dem Flipper, einer saß, ein Bein hochgelegt, vor dem Fernseher, zwei waren an der Theke mit Karten beschäftigt. Auf einem Hocker neben der Kasse saß eine Frau und löste Kreuzworträtsel. Ihr an den Hüften schon stark über die Ufer tretendes Fleisch hatte sie in rote Leggings gegossen, ich nahm an, sie hieß Lottchen. Vera fragte nach etwas zu essen. Heute nicht mehr, sagte die Frau, es sei schon zu spät. Sie bot uns Chips an oder zwei Brezeln.
„Habt ihr nicht’n paar Würstchen?“
Sie schaute mich an, als wolle sie fragen, wieso redet jetzt der Chauffeur.
„Wiener mit Brot oder so.“
Sie schaute auf die Uhr an der Wand.
„Könnt grad noch gehen. Zu trinken?“
Wir bestellten Getränke.
Lotte rutschte vom Hocker und fing an zu zapfen. Dabei warf sie mir noch einmal einen Blick zu. Es war kein sonderlich großer Blick. Sie schaute aus asphaltgrauen Augen, als hätte sie zwischen Bombay und Kiel schon alles gesehen. Möglicherweise war sie ihr Lebtag aus diesem Kaff nicht herausgekommen, sie hatte trotzdem alles gesehen. Auch Paare wie Vera und mich. Wir setzten uns.
Ich hatte meinen ersten Krug Bier hinter mir, als die Tür aufging und ein Pärchen eintrat. Die Frau hatte eine seltsame Figur. Ihre Hüften waren wie bei einem Jungen so schmal, dafür war ihr Busen um so mütterlicher geraten. Als reiche das nicht, hatte sie das Gewoge fast bis zum Kinn hochgezurrt. Entsprechend grub sich ihr Büstenhalter so tief in den Rücken, daß über und unter den Gummis kleine Höcker entstanden. Der Mann war normal gebaut. Er hatte die Haare stark pomadisiert, so daß die Schraffur des Kamms nicht mehr wegging. „Zwei Bier“, sagte er an der Theke. „Mir auch“, sagte die Frau. „Scheiße, jetzt tilt er!“ Der Kerl am Flipper schlug mit dem Handballen an das Gerät. „Halz Maul!“ Der an der Fernbedienung drückte den Fernseher lauter.
Die Tür ging wieder auf, und eine Dürre auf Absätzen hoch wie Stelzen tackerte herein. Dicht dahinter eine eingesunkene Alte mit dem Handtaschenriemen quer über dem Leib. „He, Hilli“, grinste der vom Fernseher rüber, „du brauchst dich bei uns nicht anzuschnallen!“ Die Alte kaute etwas zurück. „As un‘ Schnaps!“ sagte einer der Kartenspieler an der Theke, sie zogen Asse um Schnäpse.
Die Tür ging jetzt gar nicht mehr zu, Schlag auf Schlag kamen sie. Parfumwolken, Lackschuhe, falsche Perlen, echte Perücken. Ringerohren, Trinkernasen, einer mit der gepunkteten Binde am Arm und einer mit den gesammelten Wanderabzeichen an seinem Hut. Der zweite Zapfhahn wurde herausgeklappt, der dritte, plötzlich standen vier Leute hinter der Theke, dann fünf, und zwei wurden wieder nach vorne bugsiert – Freibiergesichter. Die Tische füllten sich, die Fensterbänke, Stau vor der Theke. Eine Musikbox sprang an, ein Schifferklavier pumpte dagegen, jemand drückte den Fernseher aus. Gelächter, Grölen, Zigarettenqualm wuchs, und der erste fiel die zwei Stufen zur Tür „Toilette“ hinunter.
Vera staunte. Und schaute, als säße sie vor einer Vitrine mit der Aufschrift “Bestiarum humanum“. Eine so wilde Entschlossenheit, einen draufzumachen, hatte sie wahrscheinlich noch nicht gesehen. Auch wenn hier vielleicht niemand annahm, daß das neue Jahr besser würde, jeder war bereit, das alte mit einem rauschenden Tritt in den Arsch zu verabschieden. Ich hielt mich zurück. Ich war selbst nicht weit weg von der Sorte und konnte Veras Beobachterfreude nicht so souverän teilen.
„Würstchen kann ich jetzt nicht mehr machen.“ Lotte sägte sich mit einem Tablett voller Krüge an unseren Tisch. „Eßt Brezeln“, sie legte uns zwei Salzbrezeln hin. Vera nahm ihre und ließ sie gleich wieder fallen. „Was ist denn das?“ Ihre Brezel war rundherum naß. Ich schaute zu Lotte, die sich mit ihrem Tablett weiter durchs Menschenvolk wühlte. Sie hatte die Brezeln unter der Achsel gehabt. Meine war an einer Stelle noch trocken, ich verzichtete trotzdem darauf.
Der nächste stürzte die Stufen zu den Toiletten hinunter, weiter vorne wurde inzwischen getanzt. Sie hüpften und kreisten und schoben sich rum. Vera stand schließlich auf und zog mich in dieses Karree. Groß tanzen konnte man nicht, doch man konnte sich festhalten und zwischen all den Ellbogen und Hintern versuchen, mehr Schwinger auszuteilen, als man einstecken mußte. Es war ein bißchen wie Autoscooterfahren, Vera steuerte mich. Zwischendurch kämpften wir uns immer mal an die Theke und kippten noch was. Dann schwoften wir wieder. Die Bude war wirklich am Dampfen. Alles stampfte und grölte, als warte man nur darauf, daß das Flugzeug abhob oder zusammenbrach. Als noch ein Trupp Feuerwehrleute hereinkam und ein Lied singen wollte, sagte Vera: „Ich muß an die Luft.“
Ich war nicht besoffen, aber jetzt kam mir alles noch schiefer vor. Die Dachbalken, die Simse, sogar der Pfosten Halteverbot hatte seinen Schlag abbekommen. Vielleicht waren es Grubensenkungen, vielleicht war ein gewaltiger Sturm über die Häuser gegangen, vielleicht wollten die Leute es so.
„Mann, ich kühle gar nicht mehr ab!“
Vera hielt ihre Jacke auseinander, um frische Luft darunter zu kriegen. Dann machte sie einen Hüpfschritt.
„He, können wir da nicht hoch?!“
Sie schaute zum Turm, der, von einem Scheinwerfer angestrahlt, in die frostige Nacht stand. Die einzige Senkrechte in dieser verbogenen Landschaft. Eine Rampe, zwei Stiegen, dann standen wir vor dem Eingang.
„Mist“, sagte Vera. Die Tür war mit einem Gitter verschlossen.
„Draht“, sagte ich, „Hast du irgendwo Draht?“
„Wo soll ich den haben? Im Mieder?“
Ich schaute rauf an ihr, runter, dann sagte ich:
„Gib mir deine Schlüssel!“
„Die brauche ich noch alle, du machst sie kaputt“.
„Ich brauche nicht die Schlüssel, ich brauche nur den Ring, an dem sie hängen.“
Ich klinkte die Schlüssel aus und bog den Spiralring zurecht. Ich längte ihn, verpaßte ihm einen Bart, korrigierte, ah, es tat gut, wieder bei der Sache zu sein. Nach all dem Firlefanz wieder eine sinnvolle Tat, ich beherrschte es noch.
„Madame!“ Die Burgtür sprang auf.
„Aber wir haben kein Licht!“
„Es geht immer nach oben.“
„Geh vor!“ Ich nahm ihre Hand, und Fuß für Fuß tastete ich mich die Wendeltreppe hinauf. Es fehlten keine Stufen, aber ab und zu war ein Stück herausgebrochen.
„Was war denn das?“
„Weiß nicht, Fledermäuse vielleicht.“
Wir stiegen noch eine Weile, immer mit einer Schulter am Sandstein, dann sah man sehr schwaches Licht, dann etwas mehr, dann waren wir oben. Die Treppe öffnete sich zu einem Raum mit breiten vergitterten Scharten. Vera lehnte sich ihn eine davon und schaute hinaus. Ich schaute ihr über die Schulter.
„Da sieht man die Straße!“ sagte sie. Und ganz da hinten, sieht aus wie ein Kraftwerk!“
Ihr Körper war immer noch warm, und aus der offenen Jacke stieg ihr Geruch zu mir hoch. Durch einen Rest Parfum der Geruch ihres Körpers, nach dem Tanzen war er noch stärker.
„Meinst du, man sieht hier ein Feuerwerk?“
Ich rutschte mit der Nase in die Kuhle zwischen Schulter und Hals. Ich wollte noch mehr von diesem Geruch, ich wollte selber so riechen. Ich sog diesen Duft in meinen Kopf, bis in die Haarspitzen sog ich mich voll.
Eine Hand hatte ich neben ihr in die Nische gestützt, mit der anderen glitt ich ihr jetzt in die Hose. Sie stand nach vorne gebeugt, und es war leicht, unter den Gürtel zu kommen. Ich fuhr hinunter und folgte dem Vlies zwischen die Beine.“
aus Martin Bettinger: Der Panflötenmann, S. 226-230
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Seine „Beziehung“ zu St. Ingbert skizziert der Schriftsteller so: „Rohrbach hat mich geprägt, ich keine seine Bewohner und manche ihrer Geschichten, und meine zum Teil auch längeren Aufenthalte in Freiburg, Berlin und Neuseeland waren letztendlich nur Ausflüge, die mich stets in mein Dorf zurückführten. Hier wurde meine Tochter geboren, hier habe ich meine Eltern begraben, hier wird sich der Kreis voraussichtlich schließen“. Den Tod des Vaters hat Martin Bettinger in seiner Erzählung „Einen Galgen für meinen Vater“ (2014) einfühlsam, aber schonungslos nachgezeichnet.
Sein Vater war es auch, der ihm schon als Kind für die Berge begeisterte. Da der sprichwörtliche „große literarische Erfolg, der Bestseller“ sich nicht einstellte, betätigt sich Bettinger auch als Berg- und Skiführer und ist zudem in der Erlebnispädagogik tätig. Nach seinen eigenen Worten faszinierte ihn die Natur schon von Kindesbeinen an, gerade auch im Umfeld seiner Heimat Rohrbach. Hans Arnfrid Astel nannte Bettinger einmal den „Naturburschen unter den saarländischen Schriftstellern“. Bis heute ist die Natur ihm Zuflucht und Quelle der Inspiration geblieben. Nicht zuletzt deswegen avancierte Neuseeland mit seiner imposanten Natur und seinen grandiosen Landschaften zum Sehnsuchtsziel: Zwischen 1994 und 2006 hielt sich Martin Bettinger viele Male auf der Insel auf. Seine Kurzgeschichten „Wo der Tag beginnt“ sind die literarischen Resultate seiner Reisen. 2001 ging Bettinger zusammen mit seinem Saarbrücker Schriftstellerkollegen Wolfgang Stauch mit einem Stipendium der Landesregierung nach Berlin. Während Stauch dort blieb und ein erfolgreicher Autor von Fernsehdrehbüchern wurde, kehrte Bettinger ins Saarland zurück und schrieb “Engelsterben”, einen Schlüsselroman über den Berliner Literaturbetrieb, mit dem er es sich, wie er annimmt, bei vielen wichtigen Kritikern verdorben hat.
In einem Interview mit Literaturland Saar im Herbst 2016 erklärte Martin Bettinger, dass er nach drei Jahrzehnten, in denen er seine Identität in der Schriftstellerei gesucht habe, eine Schreibpause einlegen und weiter die Welt kennen lernen wolle.
Martin Bettinger wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. (MB)