Natascha Denner

geb. 27. Dez. 1976 in Tomsk (UdSSR)

„Die Angst vor dem leeren Blatt ist es nicht; vielmehr die Angst vor dem Beschriebenen, dem Zeichenchaos, in dem ich nicht schwimmen kann“, sagt Natascha Denner. Dabei „schwimmt“ sie in den Flüssen der Lyrik, wie in den Seen der Prosa; außerdem arbeitet sie in der Redaktion des Saarbrücker Literaturmagazins „Streckenläufer“ und erforscht die Kultur- und Mediengeschichte des Traums am Graduiertenkolleg der Universität.

Geburt in Westsibirien

In ihrem Geburtsort Tomsk, einer westsibirischen Stadt (mit damals 300.000 Einwohnern), vier Flugstunden von Moskau entfernt, besucht Denner die Schule Nummer Sechs, wo sie ab der zweiten Klasse Deutsch lernt und einen Mittelschul-Abschluss macht. 1994, nach dem Zerfall der Sowjetunion und in einer Phase der Öffnung, wandert die Familie nach Deutschland aus (die Großeltern mütterlicherseits sind deutschstämmig), und Denner kommt nach Saarbrücken.

Hier besucht sie das Wirtschaftsgymnasium (Abitur 1997) und immatrikuliert sich zum Wintersemester 97/98 an der Juristischen Fakultät der Saar-Uni. Sie absolviert das Studium der Rechtswissenschaften (in Saarbrücken und Saragossa) und legt das Erste und das Zweite Staatsexamen ab. Anschließend tritt sie eine Stelle beim Sozialverband VdK an, die sie aber schon nach einem halben Jahr wieder aufgibt (Denner: „Ich hab gefremdelt mit dem Beruf.“). Stattdessen beginnt sie ein Masterstudium Komparatistik/Germanistik in Saarbrücken, das sie 2020 mit einer Arbeit über Ingeborg Bachmann abschließt. In diese Zeit fallen auch ihre ersten literarischen Schreibversuche. Seit April 2021 ist sie Doktorandin im Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“ und arbeitet an einer Dissertation zum Thema „Rekonstruktion und Rezeption der Traumerfahrung bei Andrej Tarkowskij“.

Die Erzählungen von Natascha Denner und die Filme von Andrej Tarkowskij (1932–1986) verraten eine Seelenverwandtschaft der Autorin mit dem berühmten russischen Regisseur. Für den Papst der deutschen Filmkritik, Peter W. Jansen, war Tarkowskij „der letzte große Poet unter den Filmemachern“, und Peter Buchka sah in ihm einen Mystiker, „den seine russische Seele in die unendlichen Weiten der Träume und Phantasien trug“. Tarkowskij selbst sprach davon, dass es Aufgabe des Films sei, die „inneren Regungen des Menschen“ als eine „Art von Traumschau“ auf die Leinwand zu bringen. In einem Exposé zu ihrer Forschungsarbeit schreibt Denner: „Der Traum wird in Tarkowskijs Filmen zu einem Bewusstseinsvorgang, der die Erinnerungen und Traumata in einer Verschränkung zwischen autobiografischen und kollektiven Erfahrungen vergegenwärtigt und dem Wachleben seine luzide Logik überstülpt. Die Übergänge zwischen dem Wachleben, den Erinnerungen und Träumen bleiben dabei fließend.“

Saarbrücker Schiff-Preis

Träume, Erinnerungen und reale Gegenwart – das sind auch die Koordinaten in Denners Texten. Und „die Übergänge“ sind fließend. So vermischen sich in ihrer ersten publizierten Erzählung „Schau, Schneee“ von 2014 die Zeitebenen, die Schauplätze der Handlung, und schließlich bleibt es für Leser wie Protagonistin unklar, was Realität und was Imagination ist. Die Ich-Erzählerin könnte eine Jura-Studentin sein, eine Künstlerin? Denner spricht vom „Versuch, einen psychotischen Schub darzustellen“, eine Welt, in der einiges real, aber „vieles auch Fiktion“ ist (Gespräch vom März 2024). Sie geht assoziativ vor, lässt beim Schreiben „eine Szene eine andere nach sich ziehen.“ Objektive Realität folgt auf subjektive Erinnerung und umgekehrt.

Dieselben Prinzipien prägen auch die Erzählung „First Love“, für die Denner mit dem Hans-Bernhard-Schiff-Literaturpreis ausgezeichnet wird. Der Titel bezieht sich auf eine romantische Erzählung Iwan Turgenjews („Erste Liebe“) und ist sarkastisch gemeint. Denner lässt ihre Ich-Erzählerin den sexuellen Missbrauch eines etwa neunjährigen Mädchens aufdecken. Die Welt des russischen Romantikers wird brutalisiert. „Bei ihm ist es heitere Ironie, bei mir ist es eine krasse Story.“

So wie die Autorin sich auf verschiedenen Zeitebenen bewegt und zwischen Erinnerung, Vorstellung und Realität hin und her wechselt, so wechselt sie auch die Sprachebenen und Perspektiven. Autor Andreas Dury meint: „Die Dramaturgie mit den schnell wechselnden Erzählperspektiven arbeitet einen Erzählkern heraus, den ein plotgeführter linearer Text immer verfehlen müsste“, und attestiert dem Text „die Unmittelbarkeit und die Plötzlichkeit eines Traums… Natascha Denner hat ein großartiges, eigensinniges Stück Literatur geschrieben, bei dem uns der riskante formale Aufbau und ganz besonders auch der verspielte, neugierige, kraftvolle Zugriff auf die deutsche Sprache gefallen hat.“ (Laudatio zur Verleihung des Schiff-Preises). Damit bekommt Denners Prosa geradezu poetische Qualität. „Ich bin keine Realistin“, sagt sie. „Ich glaube, ich bin auch nicht gut darin, eine realistische Szene zu beschreiben; bei mir ist das Surrealistische einfach automatisch da.“

Rückblickend sagt die Autorin: „Ich bin eigentlich immer davon ausgegangen: ich kann nicht schreiben. Ich hab die schlechtesten Aufsätze geschrieben im Russischen, hatte auch immer Angst, etwas aufzuschreiben, was dann gelesen wird. Aber Deutsch, dadurch dass das eine Fremdsprache war, hatte ich diese Distanz, durch die ich schreiben konnte.“ Ihre Zweisprachigkeit lässt sie das Werkzeug Sprache aber auch permanent reflektieren und nach adäquaten Mitteln des Ausdrucks suchen. Und Grenzen erfahren. Deshalb bildet sie wenn nötig neue Begriffe. „Wenn man versucht, sein inneres Erleben zu kommunizieren, dann ist zuerst gar keine Sprache da.“ Sprachliche Mittel müssen erst in Übereinkunft hergestellt, Dinge, Gefühle usw. müssen benannt werden. Sprache als selbstverständlich annehmen zu können? – „Das Gefühl hat wohl keiner, der versucht, Lyrik zu schreiben.“

pmk