Willi Graf – Briefe und Tagebücher

Inge Plettenberg

Foto: BayHStA NL Graf Willi Nr. 132

Foto: BayHStA NL Graf Willi Nr. 132

Willi Graf war ein ausdauernder, leidenschaftlicher Briefeschreiber“, fasste Elisabeth Lukas-Götz zusammen, die seinen Nachlass bearbeitete. Um die 215 Briefe sind erhalten, davon 57 an seine Schwester Anneliese, 141 an Freunde und Freundinnen und 17 aus der Haft an die Familie.[1] 47 Briefe, davon 16 aus der Haft, liegen gedruckt vor. Willi Grafs Schwester Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens haben sie 1988, mit einem einleitenden Essay von Walter Jens, im S. Fischer Verlag veröffentlicht. Sie sind unter mehreren Aspekten aufschlussreich, besonders aber deswegen, weil sich an ihnen nachverfolgen lässt, wie sich seine Wahrnehmung des Krieges in der kurzen Zeit von 1940 bis Ende 1942 ändert, was ihn schließlich veranlasst, sich dem Widerstandskreis der Weißen Rose anzuschließen. In besonderem Maße vertraute er sich dabei  Marita Herfeldt an. Willi Graf lernte sie, die später seinen Freund Hein Jacobs heiratete, 1938 an der Uni in Bonn kennen, wo alle drei studierten. Er war damals 20, sie 23 Jahre alt. Nicht nur seinem Charakter, sondern auch der Zeit – den Zwängen der NS-Diktatur und des Krieges – ist die Zurückhaltung und Vieldeutigkeit geschuldet, die Willi Grafs Briefe charakterisieren. Wichtige politische Einschätzungen oder Einzelheiten seiner Entwicklung hin zum Widerstand, sprach er gar nicht erst aus. In einigen Punkten helfen die Tagebücher mit erläuternden Anmerkungen Anneliese Knoop-Grafs, die man parallel lesen sollte.

Willi Graf mit Schwestern 1938, Foto: BayHStA NL Graf Willi Nr. 129

Willi Graf mit Schwestern 1938, Foto: BayHStA NL Graf Willi Nr. 129

Willi Grafs Briefe sind keine bewusst geschaffene Literatur, sondern Dokumente seines Lebens.  Das Briefeschreiben war für ihn kein Selbstzweck, sondern nur ein Ersatz für das unmittelbare persönliche Miteinander. „Ich weiß, daß mein Tun nur dann einen Sinn bekommt, wenn es in Beziehung zu Deinem Leben und dem der Anderen steht. Es ist mit einem Briefverkehr nicht alles getan, um diesen Sinn zu finden. Aber es scheint mir ein notwendiges Mittel zu sein, denn wir sollen wissen, wie unser Leben sich abspielt, wenn es auch in dieser Situation schwer ist, ein persönliches Leben zu führen.“ Dies schrieb Willi Graf seinem Freund  August („Gustel“) Sahm am 2. Mai 1940.[2]  Wie alle seine Briefe an Gefährten aus der Bündischen Jugend unterzeichnete er auch diesen mit dem Namen, den er sich im katholischen Schülerbund Neu-Deutschland zugelegt hatte: „Nurmi“.[3] Seit acht Monaten war der Zweite Weltkrieg im Gange; nach der Besetzung Polens, Dänemarks und Norwegens marschierten die  Armeen Hitlerdeutschlands nun auf zum „Blitzkrieg“ gegen Luxemburg, Belgien und Frankreich, der acht Tage später begann. In der Folgezeit breiteten die deutsche Wehrmacht und SS-Sondereinsatzkommandos die NS-Diktatur und ihren Terror über fast ganz Europa aus.

Briefe aus dem Krieg

Willi Graf, Medizinstudent in München, im Januar 1940 eingezogen, als Sanitäter ausgebildet und im Februar einer Krankentransport-Abteilung in Bad Wildbad zugeteilt, wird zum Rädchen in dieser Maschinerie. Ab September 1940 ist er im Kriegseinsatz, zunächst als Sanitätsunteroffizier an der französischen Kanalküste, in Belgien und wieder in Frankreich, dann in Polen und schließlich in der Sowjetunion. Seine Briefe aus dem Krieg sind vorsichtig formuliert, deuten nur an, und doch reflektieren sie eine Veränderung in der Wahrnehmung, die einhergeht mit einer unausgesprochenen inneren politischen Veränderung. Durchgehend fällt auf, dass Willi Graf sich weder in seinen Briefen noch in seinen Tagebüchern über die militärischen Feinde geringschätzig äußert, wie es in ihren Feldpost-Briefen deutsche Männer gerne taten, wenn „der Franzmann“, „der Tommy“ und besonders „der Russe“ ein Thema waren.

Wie Willi Graf grundsätzlich zu dem Krieg steht, den Deutschland mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 entfesselt hat, spiegelt sich in den Briefen zunächst nicht. Von Jugend an hat er jedoch äußeren und inneren Gleichschritt abgelehnt, und jede Art von militärischem Drill ist ihm zuwider.

Im Westen

Am Anfang, in Frankreich, lässt sich alles ganz angenehm an: „Ich habe einen sehr schönen Platz gefunden, fast kann ich behaupten, daß er in jeder Beziehung ordentlich ist. Ziemlich selbständig versorge ich den sanitären Dienst einer Pionier-Einheit und wohne auch in einer herrlichen Gegend: Eine Villa mit einem kleinen Waldsee. Den Tag kann ich mir einrichten, wie es mir gefällt,  finde also reichliche Zeit zu Dingen, welche mich selbst angehen.“ Er liest das „Tagebuch eines Landpfarrers“ von Georges Bernanos im französischen Original, um seine „sprachlichen Kenntnisse zu erweitern.“ [4] ZITAT

Nach Polen

Im März 1941 geht es Richtung Osten; zunächst gegen Jugoslawien, d.h. gegen Serbien. Dann weiter nach Polen. Am 8. Mai 1941 schreibt Willi Graf seiner Schwester Anneliese sehnsuchtsvoll, wie schön der Frühling im Englischen Garten in München sein kann, während er selbst „in diesem scheußlichen Osten“  sitzt: „Quartierort ist ein kleines polnisches Dorf, schmutzig und verwahrlost. Die Gegend ist eintönig und langweilig, zum Teil wohl durch das schlechte Wetter und seine Nässe in dieser Stimmung verstärkt. (…). Lieber wäre ich schon nach dem Süden, vor allem nach Griechenland gekommen. So aber wurden wir mit südlicher Erde gereizt, um dann sehr rasch von dort wieder wegzuziehen und gegen dieses blöde Land einzutauschen.“ [8] ZITAT

Nach „Russland“

Willi Graf an M. Herfeldt 28.05.1942, Foto: BayHStA NL Graf Willi Nr. 37

Willi Graf an M. Herfeldt 28.05.1942, Foto: BayHStA NL Graf Willi Nr. 37

Am 22. Juni 1941 beginnt mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ein Vernichtungskrieg so fanatisch, brutal und grausam, dass er alle „Blitzkriege“ zuvor in den Schatten stellen wird. Bei Willi Graf kommt dieser Gedanke aber erst später an, obwohl er von der ersten Minute an dabei ist. Zunächst bedauert er, für einen deutschen Soldaten im Osten ziemlich ungewöhnlich, dass er kein Russisch kann.  Am 29. Juni 1941  schreibt er an Marita Herfeldt: „Seit etwa drei Wochen liegen wir nun meistens in Zelten,  fast an jedem Abend irgendwo anders in den weiten Wäldern des Ostens. Nun sind wir schon im alten Rußland. Bedauerlich ist, daß meine Kenntnisse der russischen Sprache nicht über das primitive Lesen hinauskommen, manchmal wäre es schon sehr praktisch.(…) Neugierig bin ich schon auf Rußland. Bis zum letzten Tag wollte ich nicht glauben, daß wir dorthin auf diese Weise kämen. (…) Die Weite des östlichen Lands unterscheidet sich seit Polen und schon mit Polen fast überhaupt nicht. In dieser Gegend wohnen nur wenige Leute, bisher kamen wir selbst fast nur an kleinen Orten auf den schlechten Straßen vorbei. Von Rußland merkt man nichts, vielleicht haben wir uns auch ganz andere Vorstellungen davon gemacht.“ [10]
Aber zwischen den Zeilen steht schon, dass Willi Graf über den besonderen Charakter dieses Krieges nachzudenken beginnt. ZITAT

Ein Dorf wird geräumt

Weihnachten 1941 und Neujahr 1942 – und seinen Geburtstag am 2. Januar, über den er kein Wort verliert, – erlebt Willi Graf im russischen Winter. Ein weiterer Stellungswechsel bringt den Abschied vom bisherigen Quartier. Am 16. Januar 1942 schreibt er an Marita Herfeldt: „Wir hatten uns ganz ordentlich eingerichtet und fühlten uns in den Räumen dort schon einigermaßen wohl. Nun aber beginnt von neuem die Suche nach einem Platz. (…). Von diesem letzten Dorf in welchem wir manche Woche untergebracht waren, könnte ich Dir manches erzählen. Es war sicher der schönste Ort, an dem ich mich hier in Rußland aufgehalten habe. Die Lage war malerisch, wie man sie sich in diesem Land nicht besser denken kann, mitten im Walde gelegen, aus welchem sich die Bewohner ihr Ackerland gerodet hatten und nun nach allen vier Richtungen den Wald vor sich sahen. Die Menschen dort selbst waren anders als es die sonst üblichen ostischen Typen sind, zum Teil auch sehr intelligent. Tragisch erfüllte sich dann in diesen Tagen das Geschick des Dorfes.“ [22] ZITAT

Katja

Nur seinem Tagebuch offenbart Willi Graf, dass ihn mit Rußland nicht nur romantische Ideen aus der Zeit seiner Auslandsfahrten mit dem ND und dem Grauen Orden verbinden, sondern auch ein „gesicht“ und eine „anmut in allen bewegungen: das mädchen katja.  Man möchte hüten und beschützen. doch es bleibt nur das anschauen.“  [26]  Katja wohnt in dem Dorf, dessen Räumung er miterlebt. „pestrikowa soll schon in asche liegen. (…) meine gedanken sind bei den Menschen von dort, vor allem bei der einen, die so gar nicht in diese welt dort paßte. das glück – ein so seltener gast in diesem land – sei ihr freund.“ [27]meine gedanken sind oft bei dem mädchen des zerstörten dorfes. Wenn es ihr nur gut geht und ihr kein unheil zustößt möge ER sie behüten. ich sehe das schicksal rußlands in diesem menschen. (23. Januar 1942).“ [28] Aus Katjas geräumtem Haus hat Willi Graf ihre Balalaika zum Andenken mitgenommen; auf der Reise zurück nach München geht sie kaputt. ZITAT

Auf Heimaturlaub

Ab 6. April 1942 wird Willi Graf vorübergehend nach München beurlaubt, um in der Studentenkompanie sein Studium fortzusetzen. Er findet „deutschland sehr stark verändert wieder(…)“: „es hat sich seit dem februar des vergangenen Jahres ein wechsel vollzogen, der mich doch stark betroffen hat.“[30]  Schon bei der Ankunft in Berlin ist es ihm aufgefallen: „ich komme mir vor wie im traumland. festlich mutet das bild an, hübsche menschen, nirgendwo zeichen des krieges. ich laufe mit durch die stadt, wir essen, trinken, und ich nehme das bild in mich auf, ich kann es kaum fassen. ich denke an die kameraden in rußland und an alles, was dort ist und bleibt. diese ungeheuren gegensätze, warum müssen sie sein.[31] ZITAT

Zurück an die Ostfront

Anfang August 1942 ist Willi Graf wieder zurück an der Ostfront, „fast an der gleichen Stelle, wo ich den Winter verbrachte“, zu einer dreimonatigen „Feldfamulatur als Hilfsarzt“: „Meine Tage verbringe ich auf einem Hauptverbandsplatz, wo durch die heftigen Kämpfe augenblicklich eine Menge Arbeit kommt, die manchmal nicht sehr erfreulich ist.“ [34]  Dort erreicht ihn auch die Nachricht vom ersten schweren Luftangriff auf Saarbrücken: „es soll wirklich schlimm sein. Ich habe große sorge um die eltern(…).“ [35] Aber etwas ist anders. „Es ist gut, daß ich mit guten Bekannten aus München hier zusammen bleiben konnte. Wir nahmen uns schon bei der Abreise vor, unter allen Umständen zur gleichen Einheit zu kommen, auf diese Weise vergeht unsere Zeit gemeinsam, und was dies gerade hier bedeutet, kannst Du wohl   ermessen.“ [36]

Die „guten Bekannten“ sind andere Medizinstudenten aus München: Hans Scholl, Alexander Schmorell, Hubert Furtwängler und Raimund Samüller. Scholl und Schmorell sind bereits als Gegner des Nazi-Regimes aktiv. ZITAT

Auch in einem Kino trifft Willi Graf mit Dorfjugend zusammen. Er wundert sich, dass ein einheimischer Junge „am liebsten den Krieg sieht.“ Das macht ihn traurig; erklären kann er es sich nicht.[42]

Einige Tage vor dem Tanzabend der Dorfjugend hat Willi Graf Sina kennengelernt. Er besucht sie in ihrem Haus, eigentlich um Eier zu holen, kommt mit ihr ins Gespräch und wundert sich: „Ich staune, wie groß die Wut über die Deutschen ist, eine richtige Abneigung.“ Aber „wenn man sich um sie müht“,  finde man ihn leicht, den „Weg zu den Russen.“ Und: „Ich fühle mich wohl unter ihnen.“[43]  Zusammen mit Hans Scholl nimmt Willi Graf bei Sina heimlich Russisch-Unterricht.

Abschied von „Rußland“

Dann heißt es wieder Abschied nehmen. Am 1. November 1942 geht es zurück nach München. Am belorussischen Grenzbahnhof Brest schreibt Willi Graf ins Tagebuch: „Bleiben wieder lange stehen. Fast hätte es Krach gegeben, weil wir den russ(ischen). Gefangenen Zigaretten schenkten. Es ist fast eine Auseinandersetzung.[44] In Warschau verbringen die Heimkehrenden noch einmal einen Abend im Restaurant  „Blaue Ente“ und erregen dort Aufsehen:  sie wünschen sich von der Stimmungskapelle ein russisches Lied zum  Mitsingen. [45] ZITAT

Unerfüllte Liebe

In dieser Zeit muss Willi Graf mit einer unglücklichen Liebe fertig werden, worüber er in seinen Briefen schweigt. In Köln-Ehrenfeld trifft er „M.“, eine junge Frau aus dem Bonner Freundeskreis.  Am Telefon hat er sich mit ihr verabredet: „Bewegung beim Hören ihrer Stimme“. [47]  Den 19. November  beginnt er „mit wirklich großen Erwartungen“, doch die Begegnung verläuft anders. „Ich will zu Anfang schon klare Worte sagen, damit wir beide wissen, woran wir sind. Unsagbar schön vermag sie zuzuhören. Das Wort, es könne nicht mehr als diese Freundschaft daraus werden. Ich dränge weiter, und so höre ich, daß M. gebunden ist. Es ist mir, als verspüre ich körperlich einen Schlag, ich werde fast überwältigt. Wir gehen zurück, denn sie muß mit der Arbeit beginnen.“ [48]  Am 21. November 1942 die letzte Begegnung: „Es ist zunächst wie sonst. Ich erzähle davon, was mir der Aufenthalt in Rußland bedeutet hat, sie hört in ihrer schönen Art zu. Doch dann kommt das Gespräch zu der Tatsache unserer Beziehung, zu der sie sich wenig äußert. Nur wünscht sie, daß es bliebe wie früher. Ob das aber möglich ist? Das ist für mich wohl die schwerste Entscheidung meines bisherigen Lebens. Wir sind uns in manchen Augenblicken sehr nahe. Ich verstehe nicht, wie sie dies kann. Der Abschied ist schwer und fast unerträglich, vielleicht sehen wir uns nicht mehr.“ [49]

Sie schickt ihm noch ein Weihnachtspäckchen, das am 18. Dezember ankommt und „schmerzliche Freude“ bereitet. Er schreibt „M.“ zuletzt am 14. Januar 1943. Der Brief ist nicht veröffentlicht.[50] Es ist einer der letzten vier Briefe, die Willi Graf im Januar und Februar 1943 bis zu seiner Verhaftung noch verfasst.

Der Aufruf

In diesen Tagen entsteht der definitive, größte, folgenreichste Brief seines Lebens in Zusammenarbeit mit Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Prof. Kurt Huber: Der „Aufruf an alle Deutsche!“, das fünfte Flugblatt der Weißen Rose. Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur noch verlängern“, heißt es darin, „Was aber tut das deutsche Volk? Es sieht nicht, und es hört nicht. Blindlings folgt es seinen Verführern ins Verderben. Sieg um jeden Preis, haben sie auf ihre Fahnen geschrieben. Ich kämpfe bis zum letzten Mann, sagt Hitler – indes ist der Krieg bereits verloren. Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? Wollt Ihr mit dem gleichen Masse gemessen werden, wie Eure Verführer? Sollen wir auf ewig das von aller Welt gehasste und ausgestossene Volk sein? Nein! Darum trennt Euch von dem nationalsozialistischen Untermenschentum. Beweist durch die Tat, dass Ihr anders denkt! Ein neuer Befreiungskrieg bricht an. Der bessere Teil des Volkes kämpft auf unserer Seite. Zerreisst den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt. Entscheidet Euch, eh es zu spät ist! Glaubt nicht der nationalsozialistischen Propaganda, die Euch den Bolschewistenschreck in die Glieder gejagt hat! Glaubt nicht, dass Deutschlands Heil mit dem Sieg des Nationalsozialismus auf Gedeih und Verderben verbunden sei! Ein Verbrechertum kann keinen deutschen Sieg erringen. Trennt Euch rechtzeitig von allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt! Nachher wird ein schreckliches, aber gerechtes Gericht kommen über die, so sich feig und unentschlossen verborgen hielten.“ [51]

Das Flugblatt entwickelt ein Konzept für ein Europa nach Hitler: anti-imperialistisch, anti-militaristisch, föderalistisch, sozial und freiheitlich soll es sein. ZITAT

Unterstützt die Widerstandsbewegung, verbreitet die Flugblätter!“ hieß es zum Schluss. Verbreiten, aber wie? Heute geht eine Botschaft in Bruchteilen von Sekunden „viral“, während die Verfasser in Sicherheit sind. Aber 1943  konnte sie nur per Hand oder mit der Maschine geschrieben und dann  gedruckt werden. Oder sie musste auf Wachsmatritze getippt und auf einem Abzugsgerät vervielfältigt werden. Und was dann? Sich auf der Straße aufzubauen, um den „Flyer“ Passanten in die Hand zu drücken, kam nicht in Frage. Man war ja nicht lebensmüde. Man legte es also an Orten ab, wo es von anderen gefunden werden konnte, ohne dass man selbst entdeckt wurde. Vor allem aber gab man das Flugblatt persönlich in engstem Kreise weiter und versuchte die Angesprochenen davon zu überzeugen, dieses nachzutun. Und Flugblätter in adressierten und frankierten Umschlägen mit der Post stückweise an weitere Empfänger zu verschicken.

Briefe aus dem Gefängnis

Nach dem 18. Februar 1943 kommen Willi Grafs Briefe nur noch aus dem Gefängnis, und sie gehen nur noch an die Familie. Seine Aktion zu begründen und verständlich zu machen, kommt nicht in Frage, denn die Gestapo liest mit. Am 8. März schreibt er den Eltern und der Schwester Mathilde, die inzwischen geheiratet hat und in dieser Zeit ihr erstes Kind zur Welt bringt: „Was die kommenden Tage bringen, liegt in Gottes Hand. Ich habe keine Hoffnung und schließe mit allem ab. Nur um die Kraft bitte ich, das was noch kommt, ertragen zu können.“ [53] Am 10. September 1943 – das Todesurteil ist inzwischen  gesprochen -, schreibt er: „Für uns ist der Tod nicht das Ende, sondern ein Durchgang, das Tor zum wahren Leben. Ich versuche, mir diese Wirklichkeiten ganz bewußt werden zu lassen und bitte um Kraft und Segen dafür. So berühren einen die alltäglichen Dinge nicht mehr so stark, wie sie auch ausschauen mögen. Die Erfüllung des Lebens liegt nicht in ihnen. Aber die Liebe zu Deutschland wächst von Tag zu Tag und ich nehme schmerzvollen Anteil an seinem Geschick und seinen großen Wunden.“ [54]

In diesen letzten Briefen seines Lebens geht es Willi Graf vor allem darum, die Eltern, vor allem seine Mutter, zu trösten: „Wie sehr ich Euch geliebt habe, konnte ich Euch im Leben nicht sagen, aber nun, in diesen letzten Stunden sage ich Euch, leider nur auf diesem nüchternen Papier, daß  ich Euch alle von Herzen liebe und Euch verehrt habe. Für alles, was Ihr mir im Leben geboten habt und was Ihr mir durch Eure Fürsorge und Liebe ermöglicht  habt.“ [55]

Foto: BayHStA NL Graf Willi

Foto: BayHStA NL Graf Willi

Eine allerletzte Botschaft an Anneliese schmuggelt der Gefängnispfarrer unmittelbar vor der Hinrichtung aus dem Gefängnis. „Du weißt“, stenografiert  Kaplan Heinrich Sperr Willi Grafs letzte Worte mit, „daß ich nicht leichtsinnig gehandelt habe, sondern daß ich aus tiefster Sorge und dem Bewußtsein der ernsten Lage gehandelt habe. (…) Auch gegenüber meinen Freunden sollst Du bestimmt sein, mein Andenken und mein Wollen aufrecht zu erhalten. Du kannst es ja verstehen, daß ich keinem der Freunde ein Zeichen hinterlassen konnte. Wenn die Zeit günstig ist, mögest Du Dich mit ihnen in Verbindung setzten. Vor allem mit Hein Jacobs und Dr. Fritz Leist. Sage auch allen anderen Freunden meinen letzten Gruß. Sie sollen weitertragen, was wir begonnen haben.“ [56]

Am 14. Oktober 1943 teilt der Oberstaatsanwalt München I dem Herrn Reichsminister der Justiz in Berlin seinerseits in einem Brief mit: „Betreff: Strafsache gegen Graf Wilhelm. – Die Vollstreckung des Todesurteils gegen den Nebengenannten hat am 12. Oktober 1943 im Strafgefängnis München Stadelheim stattgefunden. Der Hinrichtungsvorgang dauerte vom Verlassen der Zelle an gerechnet 1 Minute 11 Sekunden, von der Übergabe an den Scharfrichter bis zum Fall des Beiles 11 Sekunden. Zwischenfälle oder sonstige Vorkommnisse von Bedeutung sind nicht zu berichten. Gez. Kummer.“ [57]

(Flugblätter der deutschen Widerstandsbewegung. Aufruf an alle Deutsche. Januar 1943. Seite 1.  – Mit freundlicher Genehmigung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand).

(Flugblätter der deutschen Widerstandsbewegung. Aufruf an alle Deutsche. Januar 1943. Seite 2.  – Mit freundlicher Genehmigung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand)

[1] Elisabeth Lukas-Götz 2016 im Vorwort zum Nachlassverzeichnis Willi Graf. – Bayerisches Hauptstaatsarchiv München: NL Graf, Willi.  •  [2] Abgedruckt in: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen. Hrsg, von Anneliese Knoop-Graf und Inge Jens. Mit  einer Einleitung von Walter Jens.  Frankfurt am Mai, S. Fischer Verlag, 1988, S. 113 f. •  [3] Der Finne Paavo Nurmi (1897 – 1973) war ein legendärer Mittel- und Langstreckenläufer, der, als Willi Graf zur Schule ging, bis 1928 schon neun olympische Goldmedaillen gewonnen hatte. •  [4] An Günther Schmich, 11. Oktober 1940. –  Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 114 f. •  [5] Roman von Felix Timmermanns, 1916. •  [6] An Günther Schmich, 1. Dezember 1940. –  Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 115 •  [7] Ebd. •  [8] An Anneliese Graf, 8. Mai 1941. – Ebd., S. 117 •  [9] An Marita Herfeldt, 12. Juni 1941. – Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 122 f. •  [10] An Marita Herfeldt, 29. Juni 1941. – Ebd., S. 127 f. •  [11] An Günther Schmich, 24. Juli 1941. – Ebd., S. 128 •  [12] Ebd., S. 129 •  [13]  An Marita Herfeldt, 10. August 1941. – Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 129 f. •  [14]  Ebd. •  [15]  Ebd., S. 130 •  [16]  Ebd. •  [17]  Ebd., S. 131 •  [18] An Marita Herfeldt, 14. November 1942. – Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 132 •  [19] Ebd., S. 132 f. •  [20] Ebd., S. 133 •  [21] Ebd. •  [22] An Marita Herfeldt, 16. Januar 1942. – Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 143 •  [23] Nach: Gewalt und Gewissen. Willi Graf und die „Weiße Rose“. Eine Dokumentation von Klaus Vielhaber in Zusammenarbeit mit Hubert Hanisch und Anneliese Knoop-Graf. Freiburg – Basel – Wien 1964, S. 59 – 61 •  [24] An Anneliese Graf, 1. Februar 1942. – Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 147 f. •  [25] An Marita Herfeldt, 4. März 1942. –  Ebd., S. 150 •  [26] Tagebuch 25. November 1942 – Zit. nach: Gewalt und Gewissen. Willi Graf und die „Weiße Rose“,  S. 59 •  [27] Tagebuch 14.  Januar 1942. – Nach ebd., S. 60 •  [28] Tagebuch 23. Januar 1942. – Nach ebd., S. 61 f. •  [29] An Marita Herfeldt, 4. März 1942. – Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 157 •  [30] An Marita Herfeldt, 28. Mai 1945. –  Nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 157 •  [31] Tagebuch 6. April 1942. – Nach: Vielhaber/Hanisch/Knoop-Graf, Gewalt und Gewissen, S. 64 •  [32] An Marita Herfeldt, 28. Mai 1942. – Nach:  Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen,  S. 157 •  [33] An Anneliese Graf, 6. Juni 1942. – Nach ebd., S. 161 •  [34] An dies., 29. August 1942. – Nach:  Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 167 •  [35] Tagebuch 8. August 1942. –  Nach ebd., S. 48 •  [36] An Marita Herfeldt, 29. August 1942. – Nach ebd., S. 167 •  [37] Ebd., S. 167 f. •  [38] An Marita Herfeldt, 24. September 1942. – Zit. nach:  Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 169 f. •  [39] Tagebuch 12. September 1942. – Zit. nach Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 57 •  [40] Ebd., 20. September 1942. – Nach ebd., S. 59 •  [41] Tagebuch 14. Oktober 1942. – Nach ebd., S. 65 f. •  [42] Ebd., 18. Oktober 1942. – Nach ebd., S. 67 •  [43] Ebd., 20. Oktober 1942. – Ebd. •  [44] Tagebuch 4. November 1942. – Zit. nach:  Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 72 •  [45] Tagebuch 5. November 1942 und Anmerkung dazu. – Nach ebd., S. 72 und S. 286 •  [46] An Walter Kastner, 8. November 1942. – Nach ebd.,  S. 172 f. •  [47] Tagebuch 18. November 1942. – Nach ebd., S. 79 •  [48] Ebd., 19. November 1942. – Nach ebd. •  [49] Tagebuch 21. November 1942. – Zit. nach Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 80 •  [50] An Marianne Thoeren, 14. Januar 1943. – Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Nachlass Graf, Willi, Nr. 43 •  [51] Fünftes Flugblatt der Weißen Rose, Seite 1, Januar 1943. – Mit freundlicher Genehmigung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. •  [52] Ebd., S. 2 •  [53] Brief aus dem Untersuchungsgefängnis Brienner Straße, 8. März 1942. – Zit. nach: Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 185. •  [54] Dto., 10. September 1943. – Nach ebd., S. 194 •  [55] Dto., 12. Oktober 1943. – Nach ebd., S. 199 •  [56] Aus dem Gefängnis geschmuggelte stenografierte Grußnotiz vom 12. Oktober 1943. – Zit. nach Willi Graf, Briefe und Aufzeichnungen, S. 199 f. •  [57] Zit. nach ebd., S. 244