Nicolas Mathieu – Goncourt-Preisträger aus Lothringen

Von Rainer Petto

© Bertrand Jamot

© Bertrand Jamot

Den Prix Goncourt hat bisher nur ein Lothringer Autor bekommen, Nicolas Mathieu. Es gab allerdings schon lothringische Preisträger des etwas weniger renommierten Prix Goncourt des Lycéens, die von französischen Oberstufen-Schülern ausgewählt werden. Und schließlich gilt der nach dem Autoren-Gespann aus der Moselle benannte Prix Erckmann-Chatrian als „lothringischer Goncourt-Preis“. Aber der richtige Prix Goncourt, den Nicolas Mathieu 2018 erhalten hat, ist der älteste und wichtigste Literaturpreis in Frankreich. Die Brüder Edmond und Jules de Goncourt sind übrigens auch Sprösslinge einer Lothringer Familie.

Als Geburtsort des lothringischen Goncourt-Preisträgers Nicolas Mathieu wird oft Épinal angegeben, genaugenommen stammt er aber aus dem nahegelegenen Golbey, der mit nicht einmal 9.000 Einwohnern viertgrößten Stadt im Departement Vosges am Südrand der ehemaligen Region Lothringen und der heutigen Region Grand Est. Aufgewachsen ist er im Milieu der „France pavillionaire“, wie er es nennt, des Frankreich der Einfamilienhäuser. Der Vater ist Elektromechaniker, die Mutter Buchhalterin.

„Wie später ihre Kinder“

Nicolas Mathieu, geboren am 2. Juni 1978, ist als Schüler ein eifriger Nutzer der örtlichen Leihbibliothek. Nachdem er mit acht eine Schreibmaschine bekommen hat, hört er nicht mehr auf zu schreiben. Zuerst denkt er sich Handlungen zu Filmen aus, von denen er den Trailer gesehen hat, mit Anfang 20 verfasst er seinen ersten, nicht veröffentlichten Roman. Er studiert in Metz Soziologie, schließt ab mit einer Arbeit über die Philosophie in den Filmen des amerikanischen Drehbuchautors, Regisseurs und Produzenten Terrence Malick. Heute lebt Nicolas Mathieu in Nancy.

Den Goncourt-Preis erhält Mathieu für den Roman „Leurs enfants après eux“, erschienen 2018, deutsch bei Hanser 2019 unter dem Titel „Wie später ihre Kinder“. Er spielt in Heillange im Tal der Henne, Stadt und Fluss sind unschwer zu entschlüsseln als Hayange und Fensch. Seit 1704 war Hayange von der Eisen- und Stahlindustrie geprägt. In den 1970er und 1980er Jahren wurden zahlreiche Betriebe stillgelegt. Am 3. Oktober 2011 erlischt das Feuer des letzten Lothringer Hochofens im Arcelor-Mittal-Werk in Hayange. Die einstige Hochburg der Arbeiterbewegung wird zur Hochburg des Front National, seit 2014 stellen die Rechtsextremisten den Bürgermeister in der 16.000-Einwohner-Stadt. Für den „Spiegel“ ist Hayange exemplarisch für das „Leben unterm Front National“, im April 2017 schickt er eine Reporterin zu „Besuch an Frankreichs Rand“.

Hayange

Sechs Jahre später. Das Saarländische Staatstheater zeigt eine selbst erarbeitete Bühnenfassung von Mathieus Roman. Der Weg von Saarbrücken nach Hayange führt durch die bukolische Lothringer Landschaft zu Seiten der D 918 über Bouzonville ins einstige Industrierevier um Thionville nahe der luxemburgischen Grenze. Noch immer thront über der Stadt die Marienstatue, die Nicolas Mathieu in seinem Roman beschreibt: „dieses zehn Meter große Monstrum der Frömmigkeit, das über den Schlaf der Arbeiter wachte“. Die sechs Tonnen schwere Madonna, 1903 gegossen, aufgestellt auf dem höchsten Hügel, 300 Meter über der Stadt, ist ein Geschenk der de Wendels. Auch ein Schloss und eine Grabkapelle erinnern in Hayange an die lothringische Großindustriellenfamilie de Wendel, die hier alles dominierte. Die Bewohner der Stadt können auch heute aus ihrem Tal zu so manchem aufschauen, nicht nur zu den riesigen rostigen Röhren der ehemaligen Schmelzhütten und zur Marienstatue, sondern auch zu einer Brücke der A 30, die über die Häuser hinweg führt.

Die untergegangene Epoche der industriellen Blütezeit wird dokumentiert im „Musée de la Mine“ im nahegelegenen Neuchef. In Hayange will eine bunte Stahlskulptur an die Arbeit in der Stahlhütte erinnern. Wie alle ehemaligen Industriehochburgen, befindet Hayange sich in einem Prozess der Neuerfindung, von dem man noch nicht weiß, wohin er führt. Die Wegweiser zum Office de Tourisme jedenfalls führen ins Nichts, auf der Homepage kann man dann nachlesen, dass es „dauerhaft geschlossen“ ist. Auf dem Platz zwischen Rathaus und Kirche knien Männer in oranger Arbeitskleidung und kratzen das Unkraut aus den Fugen. Ein Restaurant, in dem man zu Mittag essen könnte, gibt es in der Stadt nicht mehr. Die Straßen in der Stadtmitte wirken streckenweise ziemlich unlebendig, nur ein paar propere Läden halten tapfer die Stellung.

Auf dem großen Platz vor dem überdimensionierten Rathaus lungern nicht mehr die Jugendlichen herum, die Mathieu beschrieben hat. An die Zeit nach 1870/71, als Hayange von den Deutschen besetzt war und Hayingen hieß, erinnert das schön restaurierte Gebäude aus gelbem Sandstein mit der Aufschrift „Kaiserliches Postamt“. Hier im Zentrum aus der gleichen Epoche steht auch die Kirche Saint-Martin, die im Roman Saint-Michel heißt und über die es heißt: „Ihre symmetrische Pilasterfassade, ihr Turm, einem Belfried ähnlich, verlieh dem Areal das Flair einer römischen Piazza. Die Wendels hatten sie zur Zeit der deutschen Annexion erbaut, und sie hatten den Architekten gebeten, sich am Stil der Renaissance zu orientieren, etwas Italienisches zu erbauen, was den Kaiser mit seinen Vorlieben für das Westgotische beleidigen musste.“

Nicht erwähnt wird in dieser Beschreibung die ebenfalls von der Familie de Wendel finanzierte Kirchenorgel der Firma Halstein-Haerpfer aus Boulay, die auch zahlreiche Orgeln im Saarland gebaut hat. Dafür schreibt Mathieu: „Hundertzehn Jahre später war Saint-Michel d’Heillange eine Art luxuriöses Überbleibsel im allgemeinen Niedergang. Jedes Mal, wenn eine Familie einen an Staublunge oder im Suff Verstorbenen zu Grabe trug, fühlte sie sich wie auf einem Staatsbegräbnis.“

Das Zitat ist charakteristisch für die düstere Stimmungslage des Romans. Er spielt in den 1990er Jahren im Milieu der Abgehängten nach dem Niedergang der Stahlindustrie, die „die Stadt ausgeblutet zurückgelassen“ hat. „In dieser Welt zählten Arbeiter nichts mehr. Ihre großen Erzählungen waren aus der Mode gekommen.“ Der Fokus liegt auf einer Gruppe von Jugendlichen, vor allem auf Anthony, „le héros de ce bildungsroman âpre“ (dem Helden dieses bitteren Bildungsromans – „Le Figaro“).

Von dem erzählen, was man kennt

„Wie später ihre Kinder“ wurde verglichen mit den Büchern von Didier Eribon, Édouard Louis und der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, die ebenfalls Biographien aus der Unterschicht erzählen. Goncourt-preiswürdig war nur Nicolas Mathieu. Oft heißt es, sein Buch erzähle die Vorgeschichte der Gelbwesten-Bewegung.

Bis zu seinem 35. Lebensjahr nagt Mathieu, wie er sagt, am Hungertuch, lebt von Gelegenheitsjobs. 2014 kommt der Erfolg mit dem in den Vogesen spielenden Krimi „Aux animaux la guerre“ („Krieg den Tieren“ – keine deutsche Ausgabe), der 2018 von France 3 für eine 6-teilige Fernsehserie adaptiert wird. Das Buch wird mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Prix Erckmann-Chatrian.

Vier Jahre später kommt mit dem Prix Goncourt die überregionale Anerkennung für „Wie später ihre Kinder“. Ein Bestseller wird 2020 auch „Rose Royal“ (deutsch unter dem gleichen Titel), die Geschichte einer modernen Madame Bovary, die beschließt, kein Opfer mehr zu sein.

In „Connemara“ (2022) rückt Mathieu erneut die Menschen in seiner Heimatregion Lothringen in den Vordergrund. Es ist eine Geschichte über das tiefe Unbehagen der Klassenaufsteiger und über unsere moderne Arbeitswelt zwischen Power-Point und Open Space.

Im Interview mit SR-Redakteurin Tilla Fuchs hat der Autor erzählt: „Ich habe viel geschrieben, seit ich ganz klein bin, aber ich habe in dem Moment meinen Rhythmus gefunden, oder ich habe in dem Moment angefangen, ein guter Autor zu sein, als ich wirklich von dem gesprochen habe, was ich kannte, also der Ort, an dem ich geboren bin, die Leute, mit denen ich zu tun hatte.“ Bis dahin sei Schreiben ein Mittel gewesen, Distanz zu gewinnen zu seiner Herkunft.