Rösselsprünge längs der Nied

Nied PanoramafotoVon Fred Oberhauser

„De béschd mein Bach / De béschd mein Fluss / De béschd mein Meer…“ Acht Quellflüsse hat die Nied in Lothringen. Vier für die Deutsche, vier für die französische Nied. Östlich von Metz kommen beide zusammen. Vor Niedaltdorf quert der Fluss die französisch-deutsche Grenze. Zur Topographie des Pays de Nied vier autobiographische Fragmente:

Créhange (Kriechingen) 1634 – Johann Michael Moscherosch
Drei Jahre zuvor haben französische Truppen die Stadt überfallen und geplündert, auch das Haus des reichsgräflichen Amtmanns Johann Michael Moscherosch. Im Winter 1632 starb seine Frau Esther, nach ihr der Sohn Franz Friedrich. 1633 heiratete Moscherosch wieder, Maria Barbara Paniel, die „Phillis“ seiner Gedichte.
Im Oktober 1634 überfallen Kaiserliche die Stadt. Die Pest bricht aus. Auf der Flucht mit Mann und Sohn Ernst Ludwig stirbt Maria Barbara in La Petite Pierre (Lützelstein). Der Dichter „An seinen Sohn“:
So wein und seufze nun, daß es muß Gott erbarmen
Du unseliges Kind und ich betrübter Mann!
Ach wohl, wer folgen könnt in diesem Todesbann,
ich an meine Weibes Seit, du in deiner Mutter Armen.

(„Insomnis cura parentum. Christliches Vermächtnuß oder Schuldige Vorsorg Eines Trewen Vatters“. Straßburg 1634)

St-Avold 1969 – Heinrich Böll
Auf der Rückfahrt von Metz nach Köln, zwischen Metz und Saarbrücken auf der Landstraße, stutze ich plötzlich vor einem Ortsschild, das mir zunächst nur bekannt vorkam, dann, als ich hielt und nachdachte, eine ganze Kette vielschichtiger Erinnerungen auslöste. Ich konnte weder den Ort noch die Erinnerungen umgehen, ich mußte hinein und hindurch. Ich hatte das Städtchen schmutzig und von Menschen – hauptsächlich deutschen Soldaten – wimmelnd in Erinnerung: zweiundzwanzig Jahre später um die Mittagszeit erwies es sich als sehr sauber und fast menschenleer […]. Vor zweiundzwanzig Jahren kannte ich fast jedes Haus in der kleinen Stadt, weil ich überall nach Quartier für meine Frau fragte, die an den Wochenenden herunterkam. Jetzt erkannte ich kein Haus wieder, und die Erlebnisse, an die ich mich erinnerte, fanden keinen Ort und keinen Platz; die Erinnerung hatte sich selbständig gemacht, der Ort war belanglos, beliebig, austauschbar geworden.

(„Der Ort war zufällig“. Rundfunkbeitrag)

Adelange (Edelingen) 1940 – Ernst Jünger
Hier ist die deutsche Sprache nicht nur vorherrschend, sondern die einzige, die gesprochen wird […]. In den Häusern hat man das Gefühl, daß Holzwürmer und Fliegen das Inventar zu Mulm zermahlen, und draußen, daß alles unter Mist versinken wird. Braune Rinnsale, die hin und wieder schillernde Spiegel bilden, sickern die Dorfstraße hinab. Zahlreiche Häuser sind zerstört und ausgebrannt, und an den Wegen häuft sich verlassenes Kriegsmaterial. Dazwischen leben und weben die Menschen in einer dumpfen und, wie mir scheint, fast zeitlosen Stimmung; das Ganze könnte ebensogut ein Bild aus dem Dreißigjährigen Krieg sein.

(„Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern 1939 und 1940“. Berlin 1842)

KriegerdenkmalFilstroff 1988 – Jean-Louis Kieffer
Die Anciens Combattants vorm Kriegerdenkmal:

Un dann génn de Nämen ronnergelääst, Nämen von léi, wou mir
all kennen, deutsch-lotringer Nämen. Nämen von Leit wou eich
nii kannt han, awwer wou em Alwis, em Pitt, em Sepp, em
Néckel, em Klääs verscheinlich geglich han.

Déi vur em Bluomenstrauss, alt Kämpfern mét Tränen én de Auen
…un déi hénnerm Blumenstrauss, of em Stän, jong Leit én der
Naat verschwonn, fou dei Vaterland gefall. Wat fou Vaterland?

Kréich 14/18: ém Verdun bgefall, mém Spétzhelm om Kopp, fou
den Kaiser Wilhelm gefall. Fou dei Vaterland!
1940: of der Front én Belgien, fou Frankreich gefall. Fou
dei Vaterland!
1942: Stalingrad. Fou dei Vaterland!
1944: Struthof. Fou dei Vaterland!
Bomben fou dei Vaterland!
[…]
Lotringer Soldaten: fou neischt sénn der nét gefall:ä mol fou
Deitschland, ä mol fou Frankreich, awwer fou Lotringen émmer.
(„Wo de Nitt béllat. Gedichter un Gesichter of Muselfränkisch“. Bouzonville 1988)

Dieser Text von Fred Oberhauser wurde zuerst veröffentlicht in Literaturblatt für Baden-Württemberg, hrsg. v. Irene Ferchl. Mai/Juni 2015