Hans Therre

geb. 27. März 1948 in Gronig

Foto: Markus Dawo

Foto: Markus Dawo

„Es gibt für mich nur eine Möglichkeit: aus einem Kunstwerk muss beim Übersetzen ein neues Kunstwerk entstehen“, sagt Hans Therre. Und was für den Übersetzer gilt, das trifft selbstredend auch auf den Autor Therre zu, der in seinen Romanen gerne auf die ganz Großen des Genres anspielt, auf Goethe, Proust oder Kafka.

Hans Therre wird am 27. März 1948 in Gronig, in der Gemeinde Oberthal, geboren. Er wächst in dem kleinen nordsaarländischen Ort auf, besucht nach der Volksschule zunächst die Missionshaus-Schule der Steyler Missionare (heute: Arnold-Janssen-Gymnasium), dann das Cusanus-Gymnasium in St. Wendel, wo er 1969 das Abitur macht. Er studiert Germanistik, Sozialwissenschaften und Politik von 1969 bis 1972 in Saarbrücken, von 1973 bis ´76 in Marburg; 1976 Staatsexamen, anschließend Referendariat. 1979 geht er nach Berlin, wo er bis 2009 als Übersetzer und freier Autor arbeitet, unterbrochen durch längere Aufenthalte in Paris und Portugal. Nach dem Tod seiner Lebensgefährtin kehrt er 2009 ins Saarland zurück. Er lebt in Gonnesweiler (Gemeinde Nohfelden) unweit des Bostalsees.

Der Übersetzer: Französisch, Portugiesisch, Englisch

Hans Therre hat kein Fremdsprachenstudium absolviert. Als Übersetzer ist er Autodidakt. Die Begeisterung für die englische und die französische Sprache wird schon auf dem Gymnasium deutlich. 1979 wagt er sich, zusammen mit Rainer G. Schmidt, den er schon während seines Studiums in Saarbrücken kennengelernt hat und der seit 1976 ebenfalls in Berlin lebt, an die Übertragung der Gedichte von Arthur Rimbaud. Die existierenden Rimbaud-Übertragungen scheinen Schmidt veraltet, zu brav, „reine Semantik“ ohne künstlerische Form oder verfremdend, wie etwa die Bearbeitungen von Paul Zech, der „aus Rimbaud Majakowski gemacht“ (Therre) hat.

Schmidt und Therre wollen „das 19.Jahhundert aus Rimbaud rausschütteln.“ Ihre „links-alternative Übersetzung“ erscheint 1979/80 als zweibändige Ausgabe im gerade gegründeten Verlag Matthes & Seitz in München (heutiger Sitz: Berlin) und wird von der Literaturkritik kontrovers diskutiert. Während die Berliner „taz“ ihre Arbeit „genial“ nennt, sieht der Kritiker der „FAZ“ darin „das Werk von Dilettanten“.

In den 1980er Jahren wendet sich Therre einem weiteren hochkarätigen französischen Autor zu: Michel Leiris (1901 – 1990). Der Schriftsteller und Ethnologe (Leiris arbeitete u.a. am Musée de l’Homme in Paris und unternahm mehrere Forschungsreisen in afrikanische Staaten) publizierte zwischen 1948 und ´76 ein vierbändiges Werk mit dem Titel „La règle du jeu“, das Therre zwischen 1982 und ´99 im Auftrag des Verlegers Axel Matthes übersetzt. Literarische Anspielungen, poetische Verdichtungen, lange verschachtelte Sätze – Leiris „schreibt Deutsch auf Französisch“ (Therre im Gespräch, April 2022). Wie seine Vorbilder Proust und Flaubert sucht Leiris „le mot just“, das eine treffende Wort; er „bemüht sich in der Prosa um dieselbe Präzision wie in der Poesie“. Präzision, die auch dem Übersetzer abverlangt wird.

Kaum weniger komplex sind Persönlichkeit und Werk des dritten französischen Autors, mit dem Therre sich in den 1980er Jahren beschäftigt: Pierre Gripari (1925 – 1990). Der Sohn eines Griechen und einer Französin ist zeitweise Mitglied der Kommunistischen Partei, germanophil, antisemitisch und politisch „nach rechts abgedriftet“, weswegen er lange in Frankreich keinen Verleger findet und in der Schweiz veröffentlicht wird. Erfolg bescheren ihm schließlich Kindergeschichten wie die „Contes de la rue Broca“ und „Les Contes de la Folie Méricourt“, die vom französischen Fernsehen verfilmt werden. Zusammen mit Cornelia Langendorf übersetzt Hans Therre eine Auswahl dieser satirischen Geschichten; sie werden 1992 unter dem Titel „Kleiner Idiotenführer durch die Hölle“ veröffentlicht.

Mit Portugiesisch lernt Therre eine weitere westromanische Sprache, und zwar im Mutterland. Obwohl die Sprache weltweit von rund 250 Millionen Menschen gesprochen wird (im Vergleich: Deutsch von ca. 100 Millionen), ist hierzuland das Interesse an dieser Kultur eher verhalten. Therres Übersetzungsaufträge sind entsprechend kleinteilig und verschiedenartig. Neben einigen längeren Gedichten Fernando Pessoas (für ihn „der portugiesische Kafka“) überträgt er 1997 den Text zu einem Bildband („Terra“) des brasilianischen Fotografen und Umweltaktivisten Sebastiao Salgado; außerdem schreibt er den Text für die deutsche Synchronisation des Spielfilms „Am Ufer des Flusses“ („Vale abraao“, 1993) von Regie-Ikone Manoel de Oliveira, die Adaptation eines Romans der portugiesischen Autorin Augustina Bessa-Luis, der wiederum von Flauberts „Madame Bovary“ inspiriert ist.

Übersetzern bleibt oft nur die Rolle des Auftragnehmers, fremdbestimmt durch die Programmstrategien ihrer Verlage. Hans Therre kann immer wieder auch in die Rolle des Entdeckers schlüpfen. So überträgt er ab 2005 drei Romane eines bis dahin in Deutschland unbekannten Autors aus dem Englischen: Iain Levison. Der 1963 geborene Amerikaner mit schottischen und deutsch-jüdischen Wurzeln wird gerne allzu schnell im Krimi-Fach abgelegt. Für Therre sind seine Bücher „sozialkritische Romane mit Krimi-Handlung.“ Die Veröffentlichung von „Betriebsbedingt gekündigt“ (2005) in Deutschland lenkt auch international Aufmerksamkeit auf Levisons Arbeiten.

Der Autor: A Portrait of the Artist …

Hans Therres literarisches Werk ist stark autobiografisch geprägt. Früh schon führt er konsequent Tagebuch, sammelt darin Eindrücke und Empfindungen, Ideen und Spuren. Leben und Arbeit sind aufs engste miteinander verbunden. Seine frühen Texte sind deshalb sowohl Traktate zum Thema Übersetzen, als auch Reflexionen über den Menschen Hans Therre. 1994 erscheinen im Berliner Verlag Volk und Welt die Essays „Konfessionen eines Kretins“ und „Tagebuch eines Übersetzers“. Darin bringt er seine Überzeugung zum Ausdruck, „dass das literarische Übersetzen die anspruchsvollste, schwierigste und, Paradox und Skandal, gleichzeitig am schlechtesten honorierte Schriftstellertätigkeit ist.“ An seiner eigenen Person demonstriert er, auf welche Lebens- und Arbeitsbedingungen man sich gefasst machen muss, wenn man sich dafür entscheidet, als literarischer Übersetzer zu arbeiten und zu leben.

Was in den Essays aus dem Jahr 1994 anklingt, findet sich ausgearbeitet in dem knapp 500 Seiten starken Text “dichter/leben – Eine Passionsgeschichte des Übersetzens” von 2010 wieder. Therre nennt dieses Buch „eine etwas zerzauste Autobiographie“. Er habe darin versucht, „von einem leicht exzentrischen Schriftstellerleben möglichst ungeschminkt (zu) erzählen“ und „den beiden Dimensionen Leben und Arbeit eine neue Form, vor allem aber eine neue Gestalt zu geben“.

Neben literarischen Betrachtungen der eigenen Person und Profession entstehen immer wieder kürzere Prosatexte in verschiedenen Genres (siehe Bibliografie) und nicht zuletzt 1998 eine Biografie des französischen Lyrikers Stéphane Mallarmé. Nach der Fertigstellung von „dichter/leben“ beginnt Therre die Arbeit an einem großen Roman mit dem Titel „Elsterbach“.

„Elsterbach“ – neue alte Heimat

Anders Nieheim, die Hauptfigur des auf drei Bände konzipierten Romans „Elsterbach“ (Band 1 und 2 sind bereits im ConteVerlag, St. Ingbert erschienen), ist ein Suchender. Der Ich-Erzähler trägt deutliche Züge seines Schöpfers (Therre: „Zu 90% bin ich das.“); er stammt aus einem kleinen nordsaarländischen Ort, erwirbt akademische Bildung, geht nach Berlin und kehrt nach vier Jahrzehnten, als seine Frau stirbt, an den Ort seiner Kindheit zurück.

Die Rückkehr in die alte Heimat ist auch die Suche nach einer neuen Heimat. Aber kann das Alte wiederbelebt werden? Oder soll dieser Ortswechsel ein Neuanfang bei Null werden? Anders Nieheim (nomen est omen?) trifft Menschen von „damals“, Verwandte, Bekannte aus Kindertagen. Sie haben sich verändert, Anders hat sich verändert, das Dorf hat sich gewandelt samt den damit in der Erinnerung verbundenen Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen, den Häusern und den Straßen. Sollte Anders Hoffnung auf einen „status quo ante“ gehabt haben, wird diese schnell enttäuscht. Der Straßenverkehr ist mörderisch, es stinkt nach Abgasen, tagsüber ist der Lärm allgegenwärtig. Das ist nicht mehr das Dorf seiner Kindheit.

Ganze vier Tage umfasst die Handlung des ersten Bands, die Zeit von Karfreitag bis Ostermontag. Sie gipfelt in einem Osterspaziergang zum Bostalsee, der moderne Anklänge an Goethes „Faust“ zeigt. ZITAT

Hans Therre nennt „Elsterbach“ im Untertitel „Eine Art Heimatroman“. Es handelt sich hier also – wie das obige Zitat auch zeigt – nicht um einen Heimatroman im klassischen Sinn; Therre ist kein Heimatdichter. Mit Blick auf eine nicht immer glückliche Kindheit, auf Krieg und Nazi-Vergangenheit wird Heimat sogar als „Tatort“, als „vermintes Terrain“ (Bd. 1, S.20) bezeichnet. „Elsterbach“ ist eher Lamento als Loblied.

Gleichzeitig definiert Anders Nieheim Heimat als den „Ort, der zu deinem Leben gehört.“ (Bd.1, S.221). Im Gespräch (im April 2022) lotet Hans Therre die Koordinaten des Begriffs aus. „Er ist wie eine Schichttorte; er beinhaltet sehr viel.“ Natürlich gehört eine bestimmte Topografie dazu: „die Hügel und Täler dieser Landschaft, sogar ihre Gerüche.“ Anders sieht es mit den Siedlungen aus. Die Zeit hat sie „vernichtet“. Dem kleinen Dorf in Portugal, in dem er drei Jahre gelebt hat, fühlt sich Anders Nieheim sogar eher „heimatlich“ verbunden, als Elsterbach (d.i. Gronig) oder Grüneiche (d.i. Gonnesweiler).

Hat Heimat auch zu tun mit der eigenen Vergangenheit, Jugend, Sozialisation? Zumindest erleichtern „Leute von früher“ Anders Nieheim/Hans Therre das Ankommen in der Heimat. Die stärkste „Heimat-Bindung“ findet der Autor allerdings über die Sprache. „Hier, wo ich groß geworden bin, habe ich gar kein Deutsch gesprochen. In der Schule haben sie mich ausgelacht, ich konnte ja nur meinen Dialekt. Das war meine Heimat-Sprache gewesen…“ Und heute gibt es für ihn „eigentlich nur die Heimat in der Sprache, in der Schrift, in der Kunst… durch Literatur, durch Lesen, durch Schreiben erwirbt man sich Heimat.“ Und dieser Prozess – das hat Therre seit seiner Rückkehr ins Nordsaarland selbst erfahren – kann langwierig sein. „Man muss daran arbeiten.“ Therre ist angekommen. Über das „Wie“ berichtet sein Ich-Erzähler Anders Nieheim. pmk