Klause bei Kastel-Staadt

Die Odyssee des toten Königs

Serrig gegenüber liegt auf den Höhen des Saargaus das Dorf Kastel-Staadt. Von dort ist es nicht weit zur Kasteler Klause, einst Wallfahrtsort und Eremitenbehausung in steil zum Fluss abfallender Felswand. Zugang bekommt man von oben durch in den Felsen gehauene Treppenstufen. Zwei in den Buntsandstein gehöhlte Kammern und die Wandnische mit dem verwitterten Relief der Grablegung Christi lassen auf eine Nachbildung der heiligen Stätten in Jerusalem schließen, wie es zur Zeit der Kreuzzüge frommer Brauch war. Auf der vorspringenden Felsnase, etwa 200 Meter über der Saar, ließ um 1600 der Franziskanerpater Roméry eine Kapelle mit Klausnerwohnung bauen. Nach der französischen Revolution kamen keine Eremiten mehr, die Anlage verfiel.

Heilig-Grab-Nische in der Südwand des Felsens

Es war der Kronprinz (später König Friedrich Wilhelm IV.) von Preußen, der in den Ruinen 1835 eine Grabkapelle für „Johann den Blinden“, den in der Schlacht von Crécy 1346 gefallenen König von Böhmen, errichten ließ.
Was hat den preußischen Kronprinzen veranlasst, dem Toten nach fünfhundert Jahren solche Ehre zu erweisen?

Johann, 1296 geboren, einziger Sohn des Grafen von Luxemburg und späteren deutschen Kaisers Heinrich VII., war durch Vermählung mit der böhmischen Prinzessin Elisabeth vierzehnjährig König von Böhmen geworden. Als tatenreicher Regent und mutiger Kriegsheld ist er einer der letzten Ritter im „Herbst des Mittelalters“.
Zu Beginn des hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich kommt der Graf von Luxemburg und König von Böhmen mit fünfhundert böhmischen und luxemburgischen Rittern dem französischen König Philipp VI. bei Crécy in der Normandie zu Hilfe. Als die Schlacht verloren geht, lässt sich der 50jährige und seit Jahren erblindete König von zwei seiner Getreuen in die vorderste Linie führen. Der „Dichter der Rheinromantik“ Wolfgang Müller (genannt von Königswinter/1816-1873) berichtet darüber in einer die Schlacht verherrlichenden siebenstrophigen Ballade: ZITAT

Sie sterben den Heldentod. Als König Eduard III. von England anderntags über das Schlachtfeld reitet, soll er ausgerufen haben: „Ein anderes Lager hätte dem König geziemt als so auf der Erde zu liegen.“ Damit beginnt die Odyssee des toten Königs. Was davon Dichtung, was Wahrheit ist, lässt sich kaum unterscheiden.

In der Obhut der Benediktiner

König Eduard III. ließ den Leichnam aufbahren, Johanns Sohn Karl, eben zum deutschen König gewählt, ihn in die Gruft seiner Vorfahren überführen: „Zwölf trauerbehangene, mit des Königs umgestürzten Wappenschildern geschmückte Rosse zogen den Trauerwagen; am 7. September langte der Zug in Luxemburg an“, wo man Johann in der Benediktinerabtei Altmünster auf dem Bockfelsen beisetzte.

Als 1542 Franz I. von Frankreich in Luxemburg einfiel, riss man Altmünster beim Festungsausbau ab und überließ die Gebeine Johanns vorübergehend den Franziskanern, die sie wie Reliquien verehrten und den Benediktinern nur ungern zurückgaben. Die überführten Johann in ihr neuerbautes Münster in der Unterstadt und betteten ihn in ein Alabastergrab.

Bei der Beschießung der Stadt durch die Truppen Ludwigs XIV. 1684 wurde Neumünster in Brand gesetzt, Johanns Grab zerstört. Die Gebeine konnten zum Teil gerettet und in der schon nach vier Jahren wiedererrichteten Kirche („St. Johann auf dem Stein“) erneut beigesetzt werden. Der Sarg kam in „das Heilige Grab“, eine umgearbeitete Grablegungsgruppe von 1613.

Nach Ausbruch der französischen Revolution 1789 verbargen die Mönche die Gebeine bei ihrem Nachbarn, einem Bäcker, der sie vier Jahre lang auf seinem Speicher versteck hielt.

Von dort gelangten sie sicherheitshalber nach Septfontaines in die Faiencerie Boch. „Im Mansardenstock unseres Hauses“, war nach Aussage von Jean Francois Boch, dem Sohn des Gründers, „hinter allerlei Gerümpel eine kleine Tür versteckt, welche zu einem Kämmerchen führte. Da wurde der König einlogiert.“

Von Luxemburg an die Saar

1809 errichtete Jean Francois in Mettlach in der ehemaligen Benediktinerabtei eine neue Steingutfabrik; „die Gebeine des blinden Königs wurden mit verschiedenen naturhistorischen Gegenständen und sonstigen Seltenheiten eingepackt und mit nach Mettlach genommen“, wo man sie in einem blau lackierten Kindersarg im Werkmuseum aufbewahrte.

Als Kronprinz Friedrich Wilhelm 1833 die nach den Befreiungskriegen Preußen zugefallenen Rheinlande bereist und bei einem Besuch der Steingutfabrik in Mettlach „den seit 24 Jahren sorgfältigst bewahrten Sarg mit den Überresten des Grafen Johann von Luxemburg und Königs von Böhmen“ zu Gesicht bekommt, beginnt ein neues Kapitel der Odyssee.

Foto: Martin Oberhauser

Abgesehen davon, dass der Kronprinz im 15. Grad von ihm abstammte, war es wohl die Wahlverwandtschaft, die den künftigen „Romantiker auf dem Königsthron“, der sich selbst als „König von Gottes Gnaden“ verstand, dazu bewog, die Überreste des vormals berühmten Königs zu erbitten. Als Gegengabe erhielt Fabrikant Boch einen eisernen Brunnen, der heute im Park der ehemaligen Benediktinerabtei steht: zwei Becken übereinander, auf der Mittelsäule König Johann, ein Inbild des edlen Ritters.
Der tote König aber bekam sein Grab in der eigens für ihn errichteten Kapelle auf dem Hochufer der Saar. Oberbaurat Karl Friedrich Schinkel, Architekt, Maler und Theaterdekorateur in einem, hat sie nach Osten, die Fenster mit gelben und blauen Stern- und Rautenmustern, ausgerichtet und als Naturkunstwerk in die Landschaft gleichsam hineinkomponiert.

Innenaufnahme in Kirche von Grab

Marmorsarkophag in der Kapelle

Am 26. August 1838, dem Jahrestag von Crécy, wurde der Sarg auf einem trauerbeflaggten Schiff von Mettlach nach Staadt gebracht, von dort hinauf zur Kapelle getragen und in einem schwarzen unpolierten Marmorsarkophag beigesetzt.

Der Sarkophag ist seit 1946 leer. Nach sechshundert Jahren holten die Luxemburger ihren toten König heim und bestatteten ihn in der Kathedrale Notre Dame in der Fürstengruft der großherzoglichen Familie. Und zwar in demselben „Heiligen Grab“, in dem er schon in „St. Johann auf dem Stein“, der Abteikirche von Neumünster, gelegen hatte. Die posthume Irrfahrt des Königs ist damit beendet.

Die Schinkel-Kapelle, von Kunsthistorikern als „ein Juwel der Spätromantik“ bezeichnet, kann man auch mit anderen Augen sehen:

„Noch viele solcher ‚romantischen‘ Bauten [gemeint ist Burg Rheinstein] ließ der Sohn der Königin Luise errichten; in wildfelsigen Gegenden mußten Kapellen im Schinkelstil stehen, von chinesisch verworrenen Miniaturparks umgeben; wie etwa hoch über der Saar, bei Kastel, wo Einem noch heute der Klausenwärter den Fleck zeigt – violettes Licht schmilzt da opernhaft herum – wo einst der Sarg Johanns des Blinden von Böhmen stand. Draußen wartet indes das Labyrinthchen von Grotten, Trepplein, nischt wie Efeu und Nischen: überall wird die Sächssche Schweiz seines Geistes sichtbar. …“
So Arno Schmidt in seinem Essay „ES SOLL DER DICHTER MIT DEM KÖNIG GEHEN“, geschrieben in Kastel am 15. 7. 1955.

Oberhalb der Klause liegt ein Soldatenfriedhof bei der alten Johannes dem Täufer geweihten Pfarrkirche von Kastel-Staadt. Hier sollte eine für den Endsieg geplante „Höhen-Totenburg“ entstehen. Stattdessen kam es zu einem 1957 geweihten „Ehrenfriedhof“ für die Gefallenen, vor allem aus den Westwallkämpfen 1939/40 und den Kämpfen am sogenannten Orscholz-Riegel 1944/45: für die ersten und letzten Opfer des großdeutschen Wahns.

ZITAT

Exkurs: Rainer Petto und der blinde König

LandschaftsbildRainer Petto widmet in seiner mit fünfzig Erläuterungen 2020 erweiterten Neuausgabe „Ein Kind der 50er Jahre“ ein Kapitel auch Johann, Graf von Luxemburg und König von Böhmen. Der Titel: “Oma und der blinde König“.

Die Geschichte spielt in eben der Zeit, in der Alice und Arno Schmidt in Kastel auf der Höhe des Saargaus von Dezember 1951 bis September 1955 Zuflucht fanden. Und so wie die Schmidts auf ihrer Urlaubsreise ins Oldenburger Land 1953 die Grenze am Bahnhof in Serrig überdauern mussten: „Halbe Stunde Zollaufenthalt!“ („Seelandschadt mit Pokahontas“), so auch die Pettos in Saarhölzbach auf ihren Fahrten nach Saarburg. Rainer Petto: „Von Saarbrücken bis Saarburg war es ein weiter Weg, nicht nur wegen der vielen Kilometer, die zwischen beiden Orten lagen, sondern wegen der Grenze. Meine Oma wohnte ja in einem anderen Land, in der Bundesrepublik.“ (Serrig und Saarhölzbach waren nach dem Zweiten Weltkrieg bis 6. Juli 1959 Grenz- und Zollstation zwischen Rheinlandpfalz und dem halbautonomen Saarland.)

Beide Autoren erlebten die Grabkapelle des blinden Königs am linken Hochufer der Saar zur selben Zeit. Mit zwei gewichtigen Unterschieden: das ist einmal ihr Alter, zum anderen ihr Standort: von wo aus und wie man etwas sieht.

Der 41jährige Arno Schmidt hatte von seiner Unterkunft in Kastel nicht weit zu gehen: Vom Sandsteinplateau die Felswand hinab zur Felsklippe und, vorbei an den Behausungen ehemaliger Eremiten, zur Rückseite der Kapelle, wo auch der Eingang zu dem schon damals leeren Marmorsarkophag mit der böhmischen Königskrone ist (das Original befindet sich in der Schatzkammer der Münchener Residenz). Für Arno Schmidt war die gesamte Anlage ein romantisches Szenarium, das er mit der ihm eigenen Ironie beschreibt: „Noch viele solcher ‚romantischen‘ Bauten…“

Rainer Petto dagegen sah die Kapelle von unten, dem Weinbaugebiet rechts der Saar, wenn er in den Ferien mit seiner Oma in der Eisenbahn zu den Großeltern nach Saarburg fuhr, hoch über dem Fluss. „Wenn wir in die Nähe von Serrig kamen […] zeigte meine Oma den Felsen hinauf und sagte: ‚Gleich kommt der blinde König.‘“ Rainer kümmerte die Schinkel-Kapelle, die sich hier von ihrer schönsten Seite zeigt, wenig. Er war mit dem Zusammenspiel von König, blind und tot beschäftigt:

So viel wußte ich: Der blinde König würde nicht über den Gang des Eisenbahnwaggons kommen, nicht mit dem Gegenzug an uns vorbeidonnern, nicht unten auf der schmalen Straße und auch nicht mit dem Schiff auf der Saar fahren. Der blinde König kam, genau genommen, gar nicht, wir kamen zu ihm. Er lag oben auf dem Berg, und zwar lag er dort begraben, und wir fuhren unten mit dem Zug vorbei. (Heute lese ich, daß er damals schon gar nicht mehr dort oben lag, […].)
Omas Satz weckte in mir mehr Vorstellungen als manche detailgetreue Erzählung. Da war also einer, der war blind, und das hieß, er konnte nicht sehen, und er war tot, also doppelt blind, und lag in einem dunklen Sarg, konnte also dreifach nichts sehen, und war ein König, und deshalb war seine Blindheit noch viel trauriger. Ein blinder Eisenbahnschaffner oder ein blinder Schmied, das war lange nicht so traurig. Gewiß, ein blinder Schaffner konnte in den falschen Zug einsteigen, ein blinder Schmied den Amboß verfehlen, während ein blinder König immer genug Leute hat, die für ihn gucken und ihm beim Regieren helfen. Aber ein gesunder König ist der glücklichste Mensch im Lande, und ein blinder König ist deshalb der unglücklichste, seine Blindheit und sein Unglück sind von königlichen Ausmaßen.“
Rainer Petto, Ein Kind der 50er Jahre, Saarbrücken 2020.

„Gleich kommt der blinde König“: Jetzt ist es nach Saarburg nicht mehr weit. Der blinde König markiert die Route am Unterlauf der Saar. Man kann sich auf ihn verlassen.

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