Götterberg Donon
Über die D44 oder die D993 erreichen wir den Donon-Sattel (Col du Donon: 718 m), an dem die Regionalgrenze zwischen Lothringen und dem Elsass verläuft. Das Plateau liegt bereits auf elsässischem Gebiet und gehört zur Gemarkung Grandfontaine (dt. Michelbrunn; ca. 450 Einwohner). Westlich blickt man ins lothringische Tal der Roten und Weißen Saar (Vallée de la Sarre rouge et blanche), östlich ins elsässische Breuschtal (Vallée de le Bruche). In beiden wird seit jeher Französisch bzw. Welsch (frz. Welche) gesprochen. Dabei handelt es sich um einen romanischen Dialekt, dessen Name aus dem Alemannischen stammt und von Voltaire (1694-1778) in seinen Lettres d´Alsace in die französische Hochsprache eingeführt wurde.
Der Name Donon hingegen geht auf das keltische Wort Dun (Berg) zurück, und tatsächlich handelt es sich um eine keltische Stätte par excellence. Einst stießen hier drei keltische Stammesgebiete aufeinander: das der Mediomatriker (Metz), der Leuker (Toul) und der Triboker (Brumath). Im Unterschied zum vermutlich militärisch genutzten Odilienberg (Mont Sainte Odile) war der Donon eine rein religiöse Kultstätte. Unter anderem verehrten die Kelten hier ihren Hirschgott Cemunos, später den römischen Handelsgott Merkur. Der Ort war mit Bedacht gewählt: Über den Donon-Sattel führte eine wichtige Handelsstraße, jedes Jahr fand hier ein großer Markt statt. Ein 1,20 Meter hoher römischer Meilenstein diente dabei als Maß für hier gehandelte Getreidesäcke, weshalb er noch heute „Sac de Pierre“ (Steinsack) genannt wird. Allerdings steht er mittlerweile nicht mehr auf dem Sattel, sondern auf dem Gipfel des Großen Donon (veraltet dt. Hohe Donne).
Lange geriet dieser geschichtsträchtige Ort in Vergessenheit, nur in den Sagen der Region blieb er lebendig. Darin erscheint er als Geistertanzplatz, den man besser meiden sollte. Um Mitternacht sollen sich hier Weiße Frauen versammeln und so lange tanzen, bis ein feuriger Wagen vom Himmel herabfährt und sie vertreibt. Zeugen gibt es freilich keine, denn alle, die das Geschehen erlebt haben, müssen bald darauf sterben. Einer anderen Version zufolge soll hier nach der Messe ein Spielmann jungen Leuten auflauern. Während sie sich auf dem Tanzplatz wie trunken zu seinen Weisen wiegen, soll sich der Boden unter ihren Füßen auftun und sie verschlingen. Daraufhin soll der Teufelsgeiger sein Instrument zerschmettern und lachend davonfliegen.
Trotz dieser unheimlichen Geschichten wagte sich im Jahr 1692 ein frommer und tapferer Kirchenmann bis hier herauf: Abt Hyacinthe Alliot aus der benachbarten Abtei von Moyenmoutier. Er begegnete zwar keinen Gespenstern, dafür fand er mehrere gut erhaltene Tempel aus gallorömischer Zeit, die er genauestens beschrieb. Andere, berühmte Besucher folgten ihm nach, darunter Dom Calmet (1672-1757) und Johann Daniel Schöpflin (1694-1771). Calmet war Abt des lothringischen Klosters von Senones, in dessen Mauern sich selbst Voltaire wohlfühlte (er arbeitete 1754 in der großen Klosterbibliothek an seinem Essay Über die Sitten und den Geist der Völker). Schöpflin war ein elsässischer Geschichtsprofessor aus Straßburg, den Johann Wolfgang Goethe während seines Studienaufenthaltes 1770/71 kennenlernte (er widmete ihm einige Zeilen in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit). Beide machten Grabungen auf dem Doppelgipfel des Kleinen (Petit Donon: 964m) und des Großen Donon (Grand Donon: 1.009m).
Heute ist von der antiken Pracht nicht mehr viel zu sehen. Das meiste wurde in den vergangenen Jahrhunderten als Baumaterial zweckentfremdet oder von Souvenirjägern mitgenommen. Was blieb, sind die Grundrisse dreier Tempel, ein Brunnenschacht, der bereits erwähnte (aber versetzte) Meilenstein und ein Relief. Es zeigt einen Löwen, der ein Wildschwein jagt. Auch acht Götterstatuen blieben erhalten. Die Originale befinden sich in den Museen von Straßburg bzw. Epinal, auf dem Donon stehen nur noch Kopien. Weithin sichtbares Wahrzeichen des Gipfels ist heute ein (sehr frei) rekonstruierter Merkur-Tempel, den Kaiser Napoleon III. (1808-73) im Jahr 1869 errichten ließ.
Kaum war der Bau fertig, brach der Krieg von 1870/71 aus, das ganze Gebiet wurde deutsch. Das ganze? Nein, denn obwohl im Vertrag von Frankfurt (Mai 1871) die beiden westlich des Donon-Sattels gelegenen Dörfer Raon-sur-Plaine und Raon-lès-Leau dem „Reichsland Elsass-Lothringen“ und damit dem neu geschaffenen deutschen Kaiserreich zugeschlagen wurden, gaben die (französischsprachigen) Einwohner keine Ruhe. Schließlich wurden beide Orte im Rahmen einer kleinen Grenzkorrektur an Frankreich zurückgegeben, mit einer Ausnahme: Der 1.800 Hektar umfassende Gemeindewald verblieb auf elsässischer (damals deutscher) Seite. Trotz aller Proteste wurde der Verlauf dieser Regionalgrenze bis heute nicht revidiert. Beide Dörfer verblieben bei Lothringen, sind aber fast vollständig von „elsässischem“ Wald umgeben.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kam es am Donon zu schweren Kämpfen, als zunächst französische Truppen ins elsässische Breuschtal vordrangen und dann von einem badischen Ersatzbataillon zurückgedrängt wurden. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde am gleichen Ort ein Korps der französischen Armee eingekesselt, das erst nach Waffenstillstand kapitulierte. Die Namen der Toten beider Kriege und beider Nationalitäten wurden auf einer Steinplatte eingemeißelt. Nördlich des Sattels erschließt ein Rundweg (Sentier des bunkers) die erhaltenen Befestigungsanlagen, der teilweise mit der Fahrstraße D993 identisch ist.
Nur wenige Gehminuten westlich davon, aber noch auf elsässischem Boden, liegen die beiden Saar-Quellen (zweisprachiger Beschilderung folgen), mit deren Besuch diese Fluss- und Literaturreise endet. Die Quelle der Roten Saar ist in ein Becken aus (rötlichem) Vogesen-Sandstein gefasst, die der Weißen Saar wird nur durch ein schlichtes (weißes) Schild markiert. Man mag beim Blick auf das Wasser an die „spätere Fassung“ des berühmten Gedichts An den Mond von Johann Wolfgang Goethe (1749-1832; s. Postroff) denken, dessen letzte Strophen lauten: ZITAT