Rote und Weiße Saar
Wir verlassen Sarrebourg über die D44 und erreichen nach wenigen Kilometern das Dorf Hermelange (dt. Hermelingen; ca 250 Einwohner), wo sich die beiden Quellflüsse der Saar, die Rote und die Weiße Saar (frz. Sarre rouge / Sarre blanche) vereinigen. Zwei hübsche Straßen, „aus Tannen, Felsen und Stille gemacht“ (Maurice Barrès), folgen ihrem Lauf bergauf: die D44 der Roten und die D993 der Weißen Saar. Gemeinsam bilden die beiden Flusstäler das waldreiche „Pays des deux Sarres“ (Land der zwei Saar-Flüsse), das am Nordwesthang des Donon-Massivs liegt.
Zwischen beiden Flussläufen liegt das Dorf Saint-Quirin (dt. Sankt Quirin; ca. 800 Einwohner). Auf einer Anhöhe darüber entspringt eine wohl schon den Kelten bekannte Heilquelle, die gegen Geschwüre helfen soll. Im Mittelalter wurde an dem Ort eine Kapelle errichtet, die heute zu den ältesten Wallfahrtsstätten Lothringens gehört. Seit dem 12. Jahrhundert werden darin die Reliquien des Heiligen Quirinus aufbewahrt, der (wie die Quelle) als ein Nothelfer bei Geschwüren aller Art gilt. So wurde auch hier eine heidnische Kultstätte christianisiert. Ebenfalls im Mittelalter wurde an der Stelle des heutigen Dorfes ein Priorat der Benediktiner errichtet, das im 30jährigen Krieg zerstört und in den Jahren 1722-24 prachtvoll neu errichtet wurde.
Das Nachbardorf Vasperviller (dt. Wasperweiler; ca. 300 Einwohner) hatte nicht so viel Glück. Wie Saint-Quirin wurde es im 17. Jahrhundert zerstört und im 18. neu besiedelt, blieb jedoch bis ins 20. Jahrhundert kirchenlos. Doch dann kam der deutsche Architekt Carl Litzenburger vorbei und entwarf für die Gemeinde, die beim Bau kräftig mit Hand anlegte, ein modernes, vielfach verwinkeltes Gebäude aus Stahlbeton. 1968 wurde der Bau der heiligen Theresa geweiht und kann sich durchaus an Le Corbusiers berühmter Kapelle von Ronchamps messen lassen (7 Rue de l´Ecole).
Im Innern der Kirche Sainte-Thérèse erlebt der Besucher eine Überraschung: In einer in blutrotes Licht getauchten Seitenkapelle hängt ein Relief, aus dem zwei Hände, eine Schlinge und ein Beil herausragen, darüber leuchtet der Davidsstern. Das Kunstwerk erinnert an einen katholischen Priester, einen evangelischen Pfarrer und einen jüdischen Rabbiner, die von den Nazis enthauptet, gehängt und vergast worden sind. Die Glasfenster der Kirche – sie stellen den jüdischen Stammbaum Christi dar – schuf Gabriele Kuttenmeyer, und auch sie sparte nicht mit zeitgeschichtlichen Anspielungen: Auf einem Bild sieht man Jakobs zweite Frau Rahel, die auf der Flucht die heidnischen Idole ihres Vaters stiehlt. Eines davon trägt unverkennbar die Züge Adolf Hitlers.
Von Vasperviller fahren wir über die D44 in den Luftkurort Abreschviller (dt. Alberschweiler, ca. 1.500 Einwohner). 1884 wurde hier eine Forstbahn eingerichtet, die seit 1968 als Museumsbahn weiterbetrieben wird. Die heute nur noch 6 Kilometer lange Strecke führt durch den Wald nach Grand-Soldat (dt. Soldatenthal). Der Name des zu Abreschwiller gehörenden Weilers ist seit 1793 belegt und erinnert an eine römische Statue, die hier gefunden und als Abbild des Kriegsgottes Mars gedeutet wurde. Freilich könnte sie auch Merkur dargestellt haben, den bei den Kelten besonders beliebten Gott des Handels. Der Name des „Gespensterfelsens“ bei Grand-Soldat geht jedenfalls auf eine keltische Sage zurück. Derzufolge handelt es sich hier um einen Verbannungsort für gefallene Feen. Alle sieben Jahre kommen sie als Weiße Frauen wieder zum Vorschein, steigen fröhlich singend den Felsen hinab, baden in einer Quelle und kehren schließlich weinend in ihr Gefängnis zurück.
In Grand-Soldat markiert eine Gedenktafel das Geburtshaus von Alexandre Chatrian (1826-90). Der Sohn eines Glasschleifers wurde später frankreichweit durch Romane berühmt, die er zusammen mit seinem Freund Emile Erckmann (1822-99) aus Phalsbourg (dt. Pfalzburg) verfasste. Die beiden hatten sich 1847 in Phalsbourg kennengelernt, wo Chatrian als Schulmeister (Maître d’Etudes) an eben jener Schule unterrichtete, die Erckmann einige Jahre zuvor als Schüler besucht hatte. Beide scheinen mit diesem Ort angenehme Erinnerungen verbunden zu haben, denn ihr Roman Waterloo (1865) endet mit dem schönen Satz: „Ach! Hätten wir doch weniger Soldaten und mehr Schullehrer“.
1848 schlossen sich beide der Revolution an und versuchten, ihre republikanischen Ideen mit der zweisprachigen Zeitschrift Le Républicain alsacien zu propagieren, die in Straßburg erschien. In diese Zeit fallen auch ihre ersten literarischen Arbeiten: Gedichte, Theaterstücke und Prosa. Nach dem Staatsstreich von Louis Napoléon zogen sich beide aus der Politik zurück und bemühten sich, eine bürgerliche Existenz aufzubauen: Erckmann nahm sein abgebrochenes Jurastudium wieder auf, Chatrian wurde Eisenbahn-Angestellter. Daneben setzten sie auch ihre literarische Arbeit fort, vorerst aber noch ohne Erfolg. Ab 1859 gingen sie dazu über, ihre Romane unter dem Doppel-Namen „Erckmann-Chatrian“ gemeinsam zu veröffentlichen. Die „Rohfassung“ erstellte Erckmann, Chatrian übernahm das Lektorat und die Vermarktung.
Und das Rezept ging auf. Von ihren Romans nationaux (einem Vorläufer der Groschenromane) wurden zum Stückpreis von nur 10 Centimes in nicht einmal zwei Jahren 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Zu ihrem Markenzeichen machten sie historische Romane über die Französische Revolution und die napoleonische Ära, die aus der Perspektive einfacher Menschen erzählt wurden. Dies gab ihnen Gelegenheit, ihre demokratischen und pazifistischen Ideen, gleichsam in historische Gewänder gehüllt, zu propagieren und so die Zensurgesetze des Zweiten Kaiserreichs, in dem sie lebten, zu umgehen.