Niderviller, Plaine-de-Walsch
Von Sarrebourg aus bietet sich ein Abstecher in die Vogesen an. Der Weg führt in östlicher Richtung zunächst in das Dorf Niderviller (dt. Niederweiler; ca. 1.200 Einwohner). 1753 gründete hier der aus dem weiter südlich gelegenen Badonviller stammende Lothringer Mathias Lesprit eine Steingutfabrik (Faïencerie), deren Produkte bald weit über die Region hinaus bekannt waren. 1766 wurde sie von dem lothringischen Adligen Adam Philippe de Custine aufgekauft, der als französischer General 1792 Mainz einnehmen sollte. Allerdings rettete dies weder ihn (hingerichtet 1793) noch seinen Sohn Armand-Louis-Philippe (hingerichtet 1794) vor der Guillotine. Armands Frau Delphine de Custine (1770-1828) entging dem Schafott nur um Haaresbreite. Bis zum Ende von Robespierres Diktatur saß sie in verschiedenen Pariser Gefängnissen ein. Den Tod vor Augen, erlebte sie dort eine leidenschaftliche Affäre mit dem ebenfalls eingekerkerten General Beauharnais.
Nach ihrer Entlassung kehrte die ebenso schöne wie selbstbewusste Frau nach Niderviller zurück und machte ab 1795 den kleinen Ort zu einem literarischen Refugium. So befreundete sie sich mit der Schriftstellerin Anne Louise Germaine de Staël (1766-1817), die mit ihrem Buch De l´Allemagne (1814) die vergleichende Literaturwissenschaft begründete und Delphine de Custine in ihrem Roman Delphine (1802) verewigte. Unter ihren Gästen befand sich ferner der Schriftsteller und Diplomat François René de Chateaubriand (1768-1848), der zu den Mitbegründern der Romantik zählte und dessen Geliebte sie wurde. 1802 verkaufte sie die Fabrik und zog in die Normandie, wo sie ihren Salon fortsetzte.
Auch ihr in Niderviller geborener und während der Revolution hier versteckter Sohn Astolphe de Custine (1790-1857) ging in die Literaturgeschichte ein. Nachdem er seine Kindheit in Lothringen verbracht hatte, folgte er seiner Mutter in die Normandie und – nachdem diese bei Napoleon in Ungnade gefallen war – auf ihrem unsteten Wanderleben quer durch Europa (Deutschland, Italien und die Schweiz). Nach Napoleons Sturz trat Astolphe in den diplomatischen Dienst, machte sich aber vor allem als Dandy und Literat einen Namen. Wegen seiner homosexuellen Neigungen und seiner Vorliebe für das Pariser Nachtleben nannte Heinrich Heine (1797-1856) ihn spöttisch einen „demi-homme de lettres“ (literarischen Halbmann).
Sein größter Erfolg war der Reisebericht La Russie en 1839 (1843), eine scharfe Abrechnung mit dem zaristischen Regime in Russland. Zar Nikolaus I., der Custine in Petersburg zu einer Audienz empfangen hatte, reagierte tief beleidigt und verbot das Buch. Dennoch wurde es ein großer Erfolg, erlebte sechs Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Während des Kalten Krieges wurde es wieder aufgelegt und vielfach als vorweggenommene Kritik am stalinistischen System interpretiert.
Die Schlacht von Saarburg
Das Nachbardorf von Niderviller trägt den Namen Plaine-de-Walsch (dt. Hochwalsch; 1840-44: Plinterwald; ca. 600 Einwohner). Während der Schlacht von Saarburg am 20. August 1914 wurde es vollständig zerstört. Zwei Tage später sah der in Colmar als Sohn deutscher Einwanderer geborene Schriftsteller Ernst Stadler (1883-1914) die Ruinen: ZITAT
Stadler war deutscher Offizier, aber auch überzeugter Europäer. Zusammen mit seinen Studienfreunden Otto Flake (1880-1963; s. Sarreguemines) und René Schickele (1883-1940) hatte er 1903 in Straßburg die Literaturzeitschrift Der Stürmer herausgebracht, in der er für ein kulturell geeintes Europa mit offenen Grenzen eintrat. Als Leiter des weltweit ersten Instituts für Komparatistik (Vergleichende Literaturwissenschaft) in Brüssel machte er sich auch in der akademischen Welt einen Namen. Im Herbst 1914 sollte der junge Germanist und Dichter einen eigenen Lehrstuhl in Toronto (Kanada) übernehmen, doch der Kriegsausbruch warf alle Pläne über den Haufen. Als Leutnant der Reserve wurde er eingezogen und fiel im Alter von nur 31 Jahren im Oktober 1914 bei Ypern.