Niederstinzel

Eine Chaussee zieht sich durch Weizenfelder und Viehkoppeln hin. Es ist eine Chaussee, die in Bögen und Kurven verläuft. Sie geht über eine Brücke hinweg, durch ein Dorf hindurch, folgt einer Bodenwelle, einer Talsohle, dem Alphabet der Erdoberfläche. (Harig in Merian 21/9, S.72)

Die von dem deutschen Autor Ludwig Harig (geb. 1927; s. Fénétrange) beschriebene „Chaussee“ D8 führt vom Krummen Elsass durch das Saartal zurück auf lothringisches Gebiet. Kurz vor dem Dorf Niederstinzel (ca. 250 Einw.), das bereits zu Lothringen gehört, erkennt man in den Saarwiesen die Ruine einer Wasserburg. Es handelt sich dabei um Geroldseck an der Saar, nicht zu verwechseln mit der elsässischen Felsenburg Geroldseck bei Saverne. Sie geht auf eine römische Anlage des 3. Jahrhunderts zurück und gilt als älteste Burganlage Lothringens. Im Mittelalter war sie unter dem Namen „Steinsaal“ bekannt, seit dem 14. Jahrhundert ist sie nach Johann von Geroldseck benannt (einem Rittergeschlecht aus der Ortenau). Nach einem Brand im 15. Jahrhundert wurde sie als Wohnburg aufgegeben und in der Folgezeit mal als Kirche, mal als militärischer Stützpunkt genutzt, zuletzt während des 30jährigen Krieges. Der Räuberbande, die den Barockschriftsteller Johann Michael Moscherosch (1601-69; s. Fénétrange) überfiel, soll sie als Stützpunkt gedient haben.

Auch Moscherosch nutzte diesen Ort, allerdings auf literarische Weise. Während seiner Tätigkeit als Amtmann im benachbarten Fénétrange (dt. Finstingen) war er auf den pittoresken Bau aufmerksam geworden und machte ihn später zum Schauplatz seines Romans Anderer Theil der Gesichte Philanders von Sittewald (1642). Dessen erstes Kapitel trägt den programmatischen Titel „Ala mode kehrauß“. Mit diesem deutsch-französischen Sprach-Mischmasch parodiert Moscherosch die damalige Frankreich-Begeisterung und fordert eine Rückkehr zu den „alten“ Werten. Als deren Garanten lässt er in seinem Roman die Helden der germanischen und deutschen Geschichte auferstehen, darunter König Saro, „von dem noch heut zu Tag das Wasser der Saar, hienigst bey, den Namen hat“. Versammlungsort dieses fiktiven „Heldenrats“ ist Schloss Geroldseck an der Saar: ZITAT

Der Ich-Erzähler des Romans ist Philander von Sittewalt, Hauptfigur der Handlung und zugleich Alter Ego des Autors. Zweimal muss sich dieser vor dem Geroldsecker Heldenrat für seine (also Moscheroschs) Veröffentlichungen verantworten. So wird im Roman über diesen selbst Gericht gehalten. Die erste der beiden Verhandlungen dient als Anlass zu einer ausführlichen Debatte über den angeblich schädlichen Einfluss der französischen auf die deutsche Kultur, was Philander alias Moscherosch nicht daran hindert, einige Seiten weiter ein selbst verfasstes, französisches Gedicht einzuschieben und damit seine eigenen Positionen ironisch zu hinterfragen.

Der zweiten Verhandlung ist ein Disput über die Vor- und Nachteile der Neuzeit vorgeschaltet. Nach Abwägung zwischen der verderblichen Wirkung des Schießpulvers und der segensreichen Wirkung des Buchdrucks kommt der Heldenrat zu dem weisen Schluss, dass „viele tausend Menschen mehr durch die Bücher an ihrer Seele erhalten worden sind, als durch das Geschütz am Leib verdorben und umgebracht“.

Maurice Barrès und die geschichtslosen Steine

1677 wurde die Burg endgültig geschleift. In diesem Zustand (vor der Restaurierung von 1934) lernte sie der lothringische Autor Maurice Barrès (1862-1923) kennen. In seinem Roman Au service de l’Allemagne (1905) hat er sie beschrieben und zu einem Sinnbild für die Vergänglichkeit allen Seins stilisiert: ZITAT

Barrés kam 1862 in dem Dorf Charmes-sur-Moselle zur Welt zur Welt. Sein Geburtshaus, in dem er auch seine gesamte Kindheit verbrachte, wurde im Ersten Weltkrieg zerstört, den Neubau ziert eine Gedenktafel (7 Rue des Capucins). An der benachbarten „Place Henri-Breton“ erinnert seit 1952 eine Statue an den ebenso bekannten wie umstrittenen Autor. Außerdem kümmert sich eine „Association Maurice Barrès“ um sein geistiges Erbe (16 Rue des Capucins).

Barrès ist der Enkel eines napoleonischen Offiziers, der sich nach seiner Pensionierung in Charmes niedergelassen hatte. Als Kind erlebte Barrès den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 und anschließend die dreijährige Besatzungszeit, was sein Verhältnis zu Deutschland tief prägte. Nachdem er in Nancy das Abitur gemacht und ein Jura-Studium begonnen hatte, ging er 1882 nach Paris, wo er sich dauerhaft niederließ. Der finanzielle Erfolg erlaubte es ihm später, am Ortsrand von Charmes ein Grundstück zu erwerben. Hier ließ er sich ein Landhaus mit weitläufigem Park errichten, das ihm Refugium und Ort der Inspiration zugleich war (22 Rue Claude Barrès). Ein großer Teil von Barrès´ Werk ist hier entstanden. Und natürlich dient die Gegend um Charmes vielfach auch als Schauplatz seiner Romane, zum Beispiel in Amori et Dolori Sacrum, Colette Baudoche und La colline Inspirée.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs lag Charmes wieder einmal in der Kampfzone: Auf dem rechten Moselufer standen die Deutschen unter Kronprinz Rupprecht von Bayern, auf dem linken die Franzosen unter General Edouard de Castelnau. Während der Schlacht vom August 1914 (die an dieser Stelle den deutschen Vormarsch stoppte) wurden das Dorf und der benachbarte Wald ausradiert. Dass Barrès´ Haus den Beschuss überstand, grenzt an ein Wunder. Die Schlacht glorifiziert er in seiner 14-bändigen Chronique de la Grande Guerre (Chronik des Großen Krieges), die auf ein geteiltes Echos stieß. Sein pazifistischer Kollege Romain Rolland (1866-1944) etwa verspottete Barrès als „Nachtigall des Massenmords“ (rossignol du carnage). Fünf Jahre nach Kriegsende starb Barrès und wurde in der Grabstätte seiner Familie auf dem Gemeindefriedhof von Charmes beigesetzt.