Ein weites Feld das kleine Land

„Mir welle bleiwe wat mir sin“

Guter Nachbar an der Wand ist besser als Bruder über Land. Hallo Nachbarn, sagt der Nachbar also und schaut sich um. Er steht am Luxemburger Hauptbahnhof. Begrüßt wird er mit „Bonjour“. Das nächste Mal heißt es vielleicht schon „Moien“. Wenn er ein Bekannter geworden ist. Jetzt geht er zunächst einmal durch die Avenue de la Gare. Die präsentiert sich wie alle Bahnhofstraßen der Welt: geschäftig am Tag, aufgeheizt in der Nacht – und multikulturell allemal. An der Passerelle verhält er. Über den Pétrusse-Kasematten ragt, spitztürmig ausgezackt, die Stadtkrone auf.

Inzwischen drängeln wir uns durch die schmale rue de la Congrégation an der „Protestantesch Kiirch vu Lëtzebuerg“, der Dreifaltigkeitskirche. Dort ist gerade die Schule ausgegangen, die Kids zwitschern dreisprachig. In der ersten Klasse lernen sie auf Deutsch Lesen und Schreiben. Deutsch ist ihrer Muttersprache, die seit 1984 auch National- und eine der drei Amtssprachen ist, genetisch nahe. In der zweiten Klasse folgt Französisch. Lëtzebuergesch bleibt Nebenfach. Jedenfalls wissen sie später schon, wann und wo sie welche der drei Sprachen zu gebrauchen haben.

Nehmen wir zum Beispiel die Gerichte. Da fordert zu Beginn des Prozesses der Vorsitzende den Gendarm in Französisch auf, den Angeklagten aufzurufen. Der Gendarm tut das in Luxemburgisch. Lëtzebuergesch gilt auch im Zeugenverkehr, die Verhandlungen zwischen Richtern und Verteidigern verlaufen französisch, die deutsche Sprache dominiert bei der Klärung von Tatbeständen. In Deutsch wird schließlich auch das Sitzungsprotokoll verfasst, in Französisch das Urteil verkündet. Abweichungen gehören zur Regel.

Ministerien flankieren jetzt unseren Weg. Am Ende der Gasse öffnet sich der Clairefontaine-Platz. In seiner Mitte steht das Denkmal der getreuen Charlotte, der Grande-Duchesse. „Mir Hun Iech Gäer“ steht auf dem Sockel. Es ist die schönste Inschrift in der Stadt. Und eine lëtzebuergesche Inschrift noch einmal, die berühmteste, nicht viel weiter an einem Erkertürmchen in der rue de la Loge beim Fischmarkt: „Mir welle bleiwe wat mir sin“. Am 4. Oktober 1859 fuhr vom (alten) Luxemburger Bahnhof der erste Eisenbahnzug ins Ausland ab. Der Dichter Michel Lentz verfasste zum feier- lichen Anlass die Hymne „De Feierwon“ (Der Feuerwagen). Mit einem Appell an die Nachbarn in der Schlussstrophe: „Kommt hiér aus Frankreich, Bèlgie, Preisen, mir wëllen iech ons Hémecht weisen, frot dir no alle Seiten hin: mir welle bleiwe, wat mir sin.“ Ein weites Feld das kleine Land. Spontan fand der Refrain Widerhall. Der vor allem dann mit Stolz und Trotz zitiert wurde, wenn man Identität und Unabhängigkeit bedroht sah. Die Sprache, das Lëtzebuergesche, wurde zum Symbol des Widerstandes. Als 1941 im okkupierten Land bei einer Personenstandsaufnahme auf einem Zusatzfragebogen nach Muttersprache, Staatsan- und Volkszugehörigkeit gefragt wurde, antworteten 95 Prozent der Befragten nicht, wie von der Propaganda gefordert, mit „deutsch“, sondern „lëtzebuergesch“. „Der Begriff Heimat ist für einen Luxemburger sehr verschieden von dem eines Deutschen“, sagt der Historiker Gilbert Trausch. „Für einen Deutschen kann das Saarland oder Mecklenburg oder Baden die Heimat sein, aber das Vaterland ist Deutschland. In Luxemburg verschmelzen die Begriffe Heimat und Vaterland, weil es so klein ist.“

Der Nachbar hat noch etwas gelernt: Wenn der Luxemburger „Moien“ sagt – und er sagt das von Morgens bis Mitternacht –, dann wünscht er nicht so geradehin (guten) „Morgen“, sondern meint – wie es auch im Niederdeutschen mit „Mojn, Mojn“ gemeint ist – „schön“, eine schöne Zeit also. Dito meint es auch der Nachbar und sagt fröhlich: Moien Luxemburg!