Vive Victor Hugo!

Oder Die Viandener Zuflucht

Büste von Victor Hugo, Foto: Palauenc50

Als er zum sechsten Mal nach Luxemburg kam, diesmal von der belgischen Regierung wider alle Proteste im Land aus Brüssel ausgewiesen, notierte er nobel: „Ich vergebe der Regierung und danke dem Volke … Vielleicht ist es gut, dass es in meinem Leben immer ein Stück Exil gibt.“ Luxemburg jedenfalls nahm ihn auf, mit offenen Armen (für den Poeten) und mit Vorbehalt (dem „allzufeurigen Politiker“ gegenüber). Am ersten Juni 1871 kam er um 7 Uhr abends auf dem Bahnhof der Hauptstadt an. Eine große Menge erwartete ihn und rief: „Vive Victor Hugo!“, und ein Arbeiter – das vermerkte der Dichter besonders – fügte, auf ihn zutretend und die Hand an die Mütze legend, erregt hinzu: „Vive la France!“

Und dann – Hugo, hélas!, verpflichtete – regnete es Verse … „Klein ist wohl nur meine liebe Wohnung/Aber Treu’ und Friede walten drinnen/Und ein weis bestimmtes Maß der Freiheit“, bewillkommnete Michael Rodange den hohen Gast im selben Ton vielstrophig in der „Luxemburger Zeitung“, hob aber auch zum Schluss warnend den Finger und skandierte „Und verletz nicht unser frommes Gastrecht“. Ganz hielt sich Hugo nicht daran. Als er auf der Fahrt nach Vianden in Diekirch umstieg, wiederholte er halslaut, was flüsternd durch die Reihen der Schaulustigen ging: „Vive la République!“

Vianden, im „romantischen, von der großen Welt bisher abgeschiedenen Ourtal“ angepriesen, wo er mit Juliette Drouet bereits viermal Station gemacht hatte, bot auch jetzt wieder die erwünschte Zuflucht. Hugo mietete sich in zwei Häusern ein. Eines, mit Schnitzwerk reich verziert, oberhalb der Our, für sich. Das andere, gegenüber, für die Seinen. Er war mal wieder mit Kind und Kegel unterwegs und übte sich in der Kunst, Großvater zu sein. Zugleich aber auch entflammt von einer neuen Liebe, zu dem Zimmermädchen seiner Schwiegertochter Alice: Marie Mercier, achtzehnjährig und schon „Witwe“. Ihr Lebensgefährte, der Communarde Garreau, war in Paris füsiliert worden. Marie inspirierte ihn. Er stand am Pult, sah zur Burgruine hoch und schrieb wie im Rausch: „L’Année terrible“, „Quatre-vingt-treize“ und Verse für eine neue „Légende des Siècles“.

Das zweite Hauptgeschäft markieren Tagebuchnotizen: „Ich habe einen Sonnenstrahl ausgenutzt, um eine recht genaue Ansicht der Ruine von Vianden zu zeichnen.“ Die Burg – oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben war – faszinierte ihn. Wilhelm I., König der Niederlande und Großherzog von Luxemburg, hatte sie 1820 auf Abbruch versteigern lassen und sieben Jahre später als Ruine wieder zurückgekauft. „Stupide roi“ beschimpfte ihn Hugo und zeichnete manisch dann doch nicht so sehr, was ihm vor Augen stand, die Vedute, sondern deren phantastische Vision.

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli trommelte man ihn aus dem Schlaf: Stadt, Berg und Burg strahlten in einem riesigen roten Widerschein, in der Nachbarschaft brann- ten sieben Häuser. Sofort organisierte er, nachdem er das Manuskript der Gedichtsammlung „L’Année terrible“ in ein Taschentuch gewickelt hatte, eine Kette von Helfern mit Löscheimern und brachte noch am Morgen eine Spendenaktion auf den Weg, für die er die ersten 300 Francs stiftete. Das vergaß man ihm nicht in Vianden. „Sie haben Recht zu sagen, dass Ihr Vaterland auch das seine war“, dankte Edouard Lockroy, Alices Mann, dem Bürgermeister von Vianden auf dessen Beileidstelegramm zum Tod des Dichters.

PS: Vor Ort – mit Verlaub – trifft das luxemburgische „Hémecht“ das französische „patrie“ besser als das hochdeutsche „Vaterland“.