Expressionistische Autoren in der Saarregion

Eine unterbelichtete Epoche – Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus in der Saarregion

Von Ralph Schock

Die Jahre von 1910 bis 1925, die Zeit des Expressionismus, waren die vielleicht innovativste, gewiss aber turbulenteste Epoche der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Es entstanden Romane, Dramen und Gedichte, die bis heute gelesen, neu aufgelegt und interpretiert werden. Doch ist kaum bekannt, dass der Expressionismus mit seinen Nebenbewegungen Dadaismus und Surrealismus auch mit der Saarregion, wenn auch nur locker, verknüpft ist.

Aus Saarlouis stammen die Vettern Cahén. Richard Maximilian wurde am 11.5.1890 geboren, eineinhalb Jahre später, am 8.12.1891, Fritz Max. Von Richard Maximilian, der auch unter dem Pseudonym Richard Maximilian Lonsbach veröffentlichte, erschien 1919 im Kölner Kairos Verlag die expressionistische Komödie „Brandl“, die noch im gleichen Jahr im Berliner Schauspielhaus aufgeführt wurde. 1920 veröffentlichte er ein weiteres Theaterstück, die einaktige Tragödie „Gift“.

„Weltfeierabend“

Sechs Jahre zuvor war im Heidelberger Saturn Verlag in einer Auflage von 500 Exemplaren, als Band sechs der „Lyrischen Bibliothek“, sein Gedichtband „Weltfeierabend“ erschienen. Andere Texte von ihm, etwa aus dem Zyklus der „Irrenhaus-Sonette“, sind in frühexpressionistischen Anthologien abgedruckt. Zum Beispiel in der 1913 erschienenen Sammlung „Fanale. Gedichte der rheinischen Lyriker“. Die „Neuen Rundschau“ publizierte Cahéns Novelle „Der Ruf“. Sieben Szenen aus seinem Theaterstück „Der Verteidiger“ sind 1919 im ersten Heft der Zeitschrift „Der Strom“ veröffentlicht.

1933 wurde ihm jede anwaltliche Tätigkeit verboten. Später musste er zwangsweise den weiteren Vornamen Israel annehmen (siehe Abbildung, Urkunde des Standesamtes von Saarlautern von 1939 mit Rückgängigmachung 1946).

1934, kurz vor der geplanten Emigration in die USA, erblindete er. Bis zum Ende der Nazidiktatur lebte er als Mitarbeiter u. a. der „Neuen Zürcher Zeitung“ in Davos. 1948 kehrte er nach Deutschland zurück und wohnte in Köln. Sein 1939 in dem Stockholmer Exilverlag Bermann-Fischer erschienener Essay „Friedrich Nietzsche und die Juden“ kam in erweiterter Auflage 1985 neu heraus.

Sein Vetter Fritz Max Cahén verließ früh seine Heimatstadt, um in Marburg und Paris zu studieren. Seit 1913 lebte er als Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur in Berlin. Von 1915 bis 1918 war er Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Kopenhagen. 1919 reiste er als Pressechef des Auswärtigen Amtes, in dieser Funktion Mitglied der Regierungsdelegation, zur Weimarer Nationalversammlung sowie als Mitglied der Friedensdelegation nach Versailles. Am 6.8.1933 emigrierte er über Prag in die USA, 1954 kehrte er nach Deutschland zurück.

Fritz Max Cahén veröffentlichte mehrere Artikel u. a. in Franz Pfemferts Wochenschrift „Die Aktion“ sowie, neben Autoren wie René Schickele, Ernst Stadler und Else Lasker-Schüler, in dem expressionistischen „lyrischen Flugblatt“ „Ballhaus“, außerdem in der Anthologie „Der Mistral“. Eine vom Autor „autorisierte Nachdichtung“ von Guillaume Apollinaires berühmtem Gedicht „Zone“ aus der Sammlung „Alcools“ kam 1913, im Jahr der Erstveröffentlichung des französischen Originals, im Verlag von A. R. Meyer in Berlin heraus. Fritz Max Cahén übersetzte auch andere französische Autoren, u. a. den Lyriker Léon Deubel. Eines seiner eigenen, in der Zeitschrift „Die Aktion“ erschienenen Gedichte, trägt den Titel „Boulevard am Morgen“: „Ein seltner Hund, den gestern man vermißte, / kommt jetzt den Boulevard herabgewetzt, / ein dicker Mann, der eine Trambahn hetzt, / rutscht aus und fällt in eine Aschenkiste. // Wie große Koffer in den Bahnhofshallen / sind tausend Häuser aufeinanderbalanziert, / Kamine flüchtig oben drauf geschmiert, / die wacklig sind und bald herunterfallen.“ (Die Aktion, Jg. 3/1913, 12.2.,  S. 210)

Beide Cahéns, so vermerken es ihre Geburtsurkunden, waren „israelitischen“ Glaubens. In der Emigration verfassten sie Hitler-kritische Publikationen, nach 1945 überwiegend politische Sachbücher. Richard Maximilian Cahén starb 1974 in Köln, Fritz Max Cahén 1966 in Bonn.

Privatissima im Schlosscafé

In der Anthologie „Fanale“ sind auch einige Gedichte des 1891 in Köln geborenen Expressionisten Johannes Theodor Kuhlemann abgedruckt. Von 1919 bis zum 27.5.1922, dem Datum seiner polizeilichen Abmeldung, lebte er als Kritiker und Schriftleiter einer Musikzeitschrift in Saarbrücken. In einem Gedenkartikel in der „Saarländischen Volkszeitung“ vom 14.11.1951 heißt es über ihn: „Da es Kuhlemann, dem Vermittler besserer Literatur, an einem geeigneten Raum fehlte, (in seine Mietbude konnte er wirklich niemanden einladen, ohne missverstanden zu werden), so verlegte er seine wöchentlich einmal abzuhaltenden Privatissimima kurzerhand in das Schloßcafé“. (Karl Willy Straub, Drei Saarbrücker Originale. Stimmen der Heimat). Kuhlemanns 1919 im Kölner Kairos Verlag erschienener Lyrikband „Consolamini“ wurde illustriert von dem gleichaltrigen, zunächst dadaistischen, später surrealistischen Künstler Max Ernst. Am 7.10.1918 trug Kuhlemann bei der Vermählung der „Freunde Max Ernst und Lou Straus“ ein langes, in „Consolamini“ abgedrucktes Hochzeitscarmen vor („Hymne“).

Wahlaufruf Baader

Wahlaufruf Baader

Um ein Abgeordnetenmandat im Wahlkreis Saarbrücken bewarb sich im Oktober/November 1917 bei der Nachwahl für den deutschen Reichstag, die durch den Tod des Saarbrücker Abgeordneten Bassermann notwendig geworden war, der 1875 in Stuttgart geborene und von Raoul Hausmann zum „Oberdada“ ernannte Schriftsteller und Aktionskünstler Johannes Baader. Obwohl er bereits in Berlin und Hamburg mehrere exzentrische Happenings durchgeführt hatte, die den meisten Saarbrücker Wählern wohl unbekannt geblieben sein dürften, versuchte er sich in seiner Saarbrücker Kampagne den Anstrich eines soliden Kandidaten zu geben, indem er seine Plakate mit „Architekt Baader, Berlin“ unterzeichnete. 1898/99 hatte er tatsächlich einige Semester Architektur studiert. Auf seinem Saarbrücker Plakat bezeichnete er sich als einen „Dichter, der durch alle Tiefen des Lebens gestiegen ist, der […] das Wort findet, das über die ganze Erde hinwegschallt.“ „Selbstverständlich“, kommentierte sein Freund und Förderer Hausmann, „fiel er durch, aber der Versuch war neu und im Prinzip bereits DADAistisch“.

Bierstube Magie allemande

Auch der 1897 geborene französische Schriftsteller Louis Aragon hinterließ 1919/1920 einige Spuren an der Saar. Er begründete mit André Breton und Philippe Soupault den Surrealismus. In seinem 1958 erschienenen, im frühen 19. Jahrhundert spielenden historischen Roman „La Semaine Sainte“ („Die Karwoche“, Berlin 1961), gibt es einen dreiseitigen autobiographischen Einschub: („Was vermag ich gegen meine Erinnerung?“, S. 358–361): „Es ist eigentlich kaum eine Geschichte, mehr ein Bild, eine rasch verschwindende Empfindung“. Als französischer Besatzungssoldat „im Frühjahr oder gegen Winterende 1919“ in der Nähe von Völklingen stationiert, schreibt Aragon, gab es eine Konfrontation mit streikenden saarländischen Bergleuten. Wegen ungesicherter Stollen und zur Durchsetzung des Achtstundentags verweigerten diese vom 26.3. bis zum 10.4.1919 die Einfahrt. Im Unterschied zu den französischen Offizieren habe er den Protest der Bergleute gebilligt.

In Saarbrücken, so Aragon, sei ihm das dritte Heft, die Dezemberausgabe 1918, der Zeitschrift „Dada“ zugeschickt worden, als Belegexemplar für einen Text von ihm. Allerdings ist das von Aragon erwähnte Gedicht „Lever“, dessen Schlussverse er in der „Karwoche“ zitiert, nicht in jenem Heft abgedruckt, sondern in dem 1920 erschienenen und von Picasso illustrierten Band „Feu de joie“.

Von Aragon mit es auch ein Gedicht, „Bierstube Magie allemande“, mit deutlichen lokalen Bezügen u. a. zu der Saarbrücker Sophienstraße, den französischen Soldatenquartieren in der Hohenzollernstraße („entre la sarre et les casernes“) und einem in der Nähe gelegenen Bordell. Dort bot für „un morceau de chocolat“ eine „Demoiselle de Sarrebrück“ ihre Dienste an („faire le truc“). So Aragon mit einem im „Petit Robert“ zitierten Ausdruck. Rainer Petto schreibt über ihn: „Als junger Mann selber ein chronischer Bordellbesucher, hatte er als militärischer Hilfsarzt seinerzeit den Auftrag, die Frauen für das Saarbrücker Etablissement auszusuchen“. (Petto, Literaturland Saar).

Zu erwähnen ist auch der am 22.8.1894 in Neunkirchen geborene Walter Rilla, ein bekannter Schauspieler und Regisseur. Zwei Jahre nach seiner Geburt zog die Familie nach Elberfeld. Von 1918 bis 1920 gab er die in Breslau erscheinende expressionistische Zeitschrift „Die Erde. Politische und kulturpolitische Halbmonatsschrift“ heraus mit Beiträgen u. a. von Johannes R. Becher, Otto Flake, Iwan Goll, Oskar Maria Graf, Kurt Hiller und Klabund. Gedichte von ihm brachte die Zeitschrift „Die Aktion“, und 1920 veröffentlichte er den Band „Politik, Revolution und Gewalt“.

Der am 4.2.1881 in Saint-Avold (Reichsland Lothringen) geborene Hans Koch, der unter dem Pseudonym Johannes Leonhardus bzw. Leonardus veröffentlichte, gründete 1902 mit Ernst Stadler und Otto Flake in Straßburg die expressionistische Zeitschrift „Der Stürmer. Halbmonatsschrift für künstlerische Renaissance im Elsass“. Sie war das Forum der Autorengruppe „Das jüngste Elsaß“. Ihr gehörten u. a. René Schickele, Hans Arp und Hermann Wendel an. Koch starb 1952 in Singen (Hohentwiel). In erster Ehe war er verheiratet mit der Goldschmiedin Martha Lindner. Nach der Scheidung wurde sie die Ehefrau des Malers Otto Dix. Hans Koch,  Arzt und Kunstsammler, veröffentlichte Aufsätze, Gedichte und Erzählungen in expressionistischen Zeitschriften, darunter knapp 20 Beiträge in der Zeitschrift „Die Aktion“, einem der bedeutendsten Foren des Expressionismus. Otto Dix und Conrad Felixmüller haben ihn porträtiert.

Cover Zeitschrift „Feuer“

Cover Zeitschrift „Feuer“

Alfred Döblin, von 1915 bis 1918 Militärarzt in Saargemünd und in Hagenau, schrieb in diesen Jahren einige seiner expressionistischen Werke, darunter Erzählungen und den Roman „Wallenstein“. Ein Vorabruck daraus wurde unter dem Titel „Das Zauberspiel“ im Juni 1920 in der in Saarbrücken erschienenen Zeitschrift „Feuer“ abgedruckt.

Der Text von Ralph Schock wurde zuerst in etwas gekürzter Form veröffentlicht im Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums Saar „Die 20er Jahre – Leben zwischen Tradition und Moderne im internationalen Saargebiet (1920-1935)“, erschienen im Michael Imhof Verlag, Petersberg 2020. Veröffentlichung auf unserer Website mit freundlicher Genehmigung des Autors. – Siehe auch das 2020 im St. Ingberter Conte Verlag von Ralph Schock herausgegebene Buch: Also heraus weit und weg! Expressionismus – Eine Epoche und die Saarregion. Lese- und Bilderbuch