Lothar Quinkenstein

geb. 11. Sept. 1967 in Bayreuth

Portraitfoto

Foto: Adam Czerneńko

Lothar Quinkenstein hat es sich zur Aufgabe gemacht, polnische Literatur in Deutschland bekannt zu machen und die mitteleuropäische Sicht auf Geschichte und Gegenwart zu vermitteln. Parallel dazu pflegt er die Erinnerungen an seine Kindheit im Saarland. Er ist Lyriker, Erzähler, Romancier, Essayist, wissenschaftlicher Autor, Übersetzer und Herausgeber. Obwohl er schon lange nicht mehr im Saarland lebt, erscheinen viele seiner Werke in hiesigen Verlagen.

Lothar Quinkensteins Eltern sind beide Ärzte. An seine Geburtsstadt Bayreuth hat Quinkenstein nach eigenen Worten keinerlei Erinnerung, da die Familie von hier wegzieht, als er noch nicht ein Jahr alt ist. Nächste Station, bis zum Ende des ersten Halbjahrs der ersten Klasse, ist Saarbrücken („die Stadt, in der ich laufen, lesen, schreiben gelernt hatte“).  Es folgt der Umzug nach Wustweiler (Ortsteil von Illingen), 1981 nach Wemmetsweiler (Ortsteil von Merchweiler).

Nach dem Abitur 1986 am Illtal-Gymnasium Illingen studiert Quinkenstein Germanistik und Ethnologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1994 kommt er eher zufällig nach Polen, die Begegnung mit diesem Land führt zu einer Wende in seinem Denken. Er bleibt bis 2011, dann zieht er nach Berlin. Seit 2012 unterrichtet Quinkenstein im Rahmen der Interkulturellen Germanistik am Collegium Polonicum in Słubice.

Erste literarische Veröffentlichungen

1997 – er lebt bereits in Polen – tritt Quinkenstein zum ersten Mal mit einer eigenständigen literarischen Veröffentlichung hervor, dem Prosa-Band „Nervenharfe“ im Blieskasteler Gollenstein-Verlag. Ob Ich- und Er-Erzählung, in allen Texten herrscht die gleiche düstere Stimmungslage, ein Mann bewegt sich am Rande des seelischen Abgrunds. Hier schon, wie in manchem späteren Werk, die Kneipe, der Alkoholrausch als Zuflucht. Es ist nicht nur „die Unmöglichkeit von Nähe“ im Verhältnis zu Frauen, was den Mann so deprimiert, es ist grundsätzlicher: „Es gibt offensichtlich Charaktere, die sich an die Welt, auf die sich eine Mehrheit stillschweigend geeinigt hat, nicht gewöhnen lassen – (wollen)?“ Von auftauchenden Kindheitserinnerungen an eine tote Katze und an den Einbruch in eine Leichenhalle wird der Quinkenstein-Leser bei der Lektüre von „Wiesenzeit“ feststellen, dass es sich offenbar nicht um Erfindungen, sondern um eigene Erlebnisse des Autors Lothar Quinkenstein handelt.

In „Schnaps“, Quinkensteins zweiter Veröffentlichung (Coverillustration: Małgorzata Anna Quinkenstein), verschwimmen das Liebes- und das Alkoholproblem ineinander: „und ihre Hände waren wie klarer Schnaps, der wunderbar wärmt, […] der aber dem Gleichgewicht gefährlich wird, sobald man versucht, die in jeder Faser glimmende Wärme des ersten Gläschens zu wiederholen“. Und auch die Kurzgeschichte „Einige Momente Karls“ handelt wieder von einem problematischen männlichen Individuum.

Quinkensteins erster Gedichtband, „Beim Stimmen der Saiten“, erscheint 2007, gefördert vom saarländischen Kultusministerium, im Saarbrücker Geistkirch-Verlag. Die Berliner Schriftstellerin Tanja Dückers schreibt im Vorwort: „Eine zeitlose Zeit, eine erledigte, befreite, überwundene oder doch immer in der Erinnerung noch schmerzhafte Zeit, eine Zeit ohne Menschenmaß klingt wie eine kosmische Hintergrundstrahlung an.“ Quinkensteins Lyrik sei „kosmologisch-endzeitlich“ – doch der Autor sucht nicht das mythologische Raunen, die bewusste Dunkelheit. Immer wieder gelingen eingängige Beobachtungen wie die von der Brücke, die „die Wunde des Flusses“ klammert, oder von den Anglern, die an den Angelschnüren „den Fluss in der Schwebe“ halten.

Polen

Quinkensteins zweiter Lyrik-Band „gegenort“ ist dann unverkennbar geprägt vom Polen-Erlebnis, erschienen 2013, zwei Jahre nach seiner Übersiedlung zurück nach Deutschland, nach Berlin. Im Klappentext heißt es: „Lothar Quinkenstein ist ein Spurensucher. In Landschaften und Lektüren findet er die Zeichen einer nicht vergangenen Geschichte.“ Gleichzeitig scheint die Entfremdung von Deutschland durch, der Heimatbegriff ist problematisch geworden. Erinnerungen ans Saarland werden wach in Verbindung mit Personen wie Gustav Regler, Gräfin Octavie de Lasalle von Louisenthal (siehe Theodor de Lasalle von Louisenthal) oder Johannes Kühn (Letzterer namentlich nicht genannt, aber unverkennbar gemeint in dem Gedicht „Von Hasborn nach Bildstock“).

Die Thematik von „gegenort“ führt Quinkenstein in seinem dritten Gedichtband, „mitteleuropäische zeit“ (2016) fort. Die „mitteleuropäische zeit“, heißt es im Klappentext, erweist sich „als Synonym für Gedächtnis“. Dazu gehören auch Wiederbegegnungen mit der eigenen Kindheit: „du ertappst dich wie du in den taschen / deiner ausgebeulten kinderhose / suchen möchtest nach dem einen / noch nicht gelutschten drops des augenblicks“.

2013 erscheint in einem Dresdner Verlag der erste Roman. „Tellurium“ spielt an einem Tag und einer Nacht im polnischen Poznań (Posen). Hier hat Lothar Quinkenstein eine Zeitlang gelebt, den Protagonisten Andreas Brandstaetter kann man weitgehend als Alter Ego des Autors verstehen. Der Deutsche ist Teil einer Gesellschaft, die in einer Kneipe namens „Krone“ ihren Lebensmittelpunkt hat. „So gehen die Tage dahin, diesig verhangen, der Himmel ein abgestoßenes Transplantat, nur für Momente die Sonne, eine erfrorene Schneebeere am Zweig des Blicks, und du willst nur noch fort von diesem stillgelegten Bahnhof Ich, fort und unter Menschen, um bis zur Sperrstunde an einem Tisch zu sitzen, durstig nach jedem Tropfen, den das Leben ringsum verschüttet.“

Andreas ist in der Krise, seine polnischen Freunde aus der „Krone“ sind alle irgendwie Künstler und suchen nach einem Auskommen, sein Freund Adam hat ein vielversprechendes Projekt aufgetan, aber er geht Andreas in der Nacht verloren, alle treten auf der Stelle.

Der zweite Roman, „Souterrain“, erschienen 2019, liest sich wie die Fortsetzung von „Tellurium“. Schauplatz ist wieder die Stadt Poznań, das Alter Ego des Autors heißt jetzt, obwohl es einen Ich-Erzähler gibt, Tobias. Es ist die Zeit nach 1989, zunächst trifft man sich wieder in der „Krone“, „die in jenen Jahren noch das Stammrevier der Schönen Künste war“. Diese „Skizze für einen Roman“ ist politischer als „Tellurium“. Die jungen Polen diskutieren über die Vor- und Nachteile des neuen Kapitalismus und des vormaligen Kommunismus („Früher war alles grauer.“), sie suchen nach ihrer nationalen Identität („Jetzt haben wir es zurück, unser Vaterland, und was kommt raus dabei?“). Der Unterschied zu Deutschland wird deutlich in einem Gespräch darüber, was man als Kind gespielt hat: Die Polen spielten Partisanen und Deutsche und wollten immer bei den Partisanen sein, Tobias und seine Freunde spielten nicht Partisanen, auch nicht Stauffenberg, sondern Cowboys und Indianer und wollten Winnetou sein. Und später, als politisch engagierte Studenten, interessierten sie sich nicht für die Vorgänge in Polen.

Brücke aus Papier

In dieses Land Polen, das eine so große Faszination auf ihn ausüben sollte, gerät Lothar Quinkenstein, wie er in dem Essay-Band „Erinnerung an Klara Blum“ und im Roman „Souterrain“ erzählt, durch puren Zufall, zunächst ganz ohne polnische Sprachkenntnisse: Nach dem Magisterexamen sucht er wegen der schwierigen Arbeitssituation in Deutschland eine Stelle im Ausland und findet am Schwarzen Brett der Uni drei Angebote, von denen nur noch die Stelle als Deutschlehrer an einem Lyzeum in der südostpolnischen Kleinstadt Mielec zu haben ist. Dort bleibt er von 1994 bis 1996. 1999 promoviert er an der Adam-Mickiewicz-Universität zu Poznań und tritt dort eine Stelle am Institut für Germanische Philologie an.

Die Begegnung mit Polen, zufällig zustande gekommen und ursprünglich nicht auf Dauer angelegt, ist ein einschneidendes Erlebnis für Quinkenstein. Er bleibt siebzehn Jahre lang in dem Land, lernt hier seine spätere Frau kennen, und die intensive Beschäftigung mit der polnischen Geschichte löst bei ihm ein Umdenken aus. Seine Perspektive auf Westeuropa verändert sich. Er kommt zu Neubewertungen, etwa des links-alternativen Politikverständnisses, das er als Student wohl selbst geteilt hat. Dies nach Deutschland zu vermitteln, wird für ihn zur Mission, der er in den verschiedensten Medien und Genres nachgeht. Zwischen Polen und Deutschland schlägt Quinkenstein eine „Brücke aus Papier“, wie der Titel eines Bandes lautet, in dem Gedichte von Quinkenstein in alle Sprachen der Bukowina übersetzt werden.

Neben zahlreichen Aufsätzen in deutschen und polnischen Zeitschriften und Anthologien betreibt Quinkenstein seine Mittlertätigkeit auch als Übersetzer und Herausgeber. Als Mitherausgeber der „Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur“ des Wallstein Verlags macht er dem deutschen Publikum Bogdan Wojdowskis (1930-1994) Roman „Brot für die Toten“ wieder zugänglich, der im Warschauer Ghetto spielt, dem der Autor als Kind entrinnen konnte. Unter Quinkensteins eigenen Übersetzungen finden sich u.a. Bücher von Olga Tokarcuk, der Nobelpreisträgerin von 2018.

Eine gute Einführung in Quinkensteins Sicht der Dinge bietet der Band „Erinnerung an Klara Blum“, 2015 bei Röhrig in St. Ingbert verlegt. In einer Mischform aus Essay, Buchbesprechungen, historischen Überlegungen, subjektivem Erleben eröffnet er ein vielfältiges Panorama vor allem auf die polnische Kultur und Geschichte. Er stellt wichtige Autoren und Autorinnen vor, mit denen er den Blick nach „Mitteleuropa“ lenken will. Dies ergibt eine ganz andere Perspektive, weil nämlich „die Zentren Mitteleuropas nicht Berlin, Hamburg oder München heißen, sondern Prag, Wien, Krakau oder Lemberg“. In einem „‚von Polen her‘ gedachten Europa“ würden die Schlüsselmomente des 20. Jahrhunderts kenntlich werden. Der Westen „müsste zuhören, was der so genannte Osten von der Mitte zu erzählen hat“. Die mitteleuropäische, für Quinkenstein speziell die polnische Kultur ist hochinteressant.

Jeweils in ihrem räumlichen und historischen Zusammenhang führt er eine beeindruckende Reihe von Autorinnen und Autoren auf, die hierzulande weitgehend unbekannt sind, etwa die deutschsprachige jüdische Autorin Klara Blum (1904-1971), die aus Czernowitz stammt. „Wie kaum eine andere Stadt steht Czernowitz für Mitteleuropa, als Topographie eines Atem beraubenden Gedächtnisses, als Topographie eines entsetzlichen Verlusts.“

Besonderes Gewicht legt Quinkenstein auf die Prägung der polnischen Kultur durch die jüdische. Man dürfe die Juden nicht nur als Opfer sehen, sondern auch als kulturelle Tradition mit prägenden Ideen fürs Abendland.

Saar-Reminiszenzen

In den Texten der „Erinnerung an Klara Blum“ wie auch in den Romanen und Gedichten Quinkensteins tauchen immer wieder Reminiszenzen an Kindheit und Jugend im Saarland auf.

In der Uni-Bibliothek in Poznań stößt Quinkenstein auf den Saarland-Reiseführer von Fred Oberhauser. Er erfährt darin von den höfischen Romanen der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und von Alfred Döblins Aufenthalt von der Saar. Ein Foto vom Itzenplitzer Weiher löst Erinnerungen aus: „Das Bild entführte mich mehr als einmal aus dem gegenwärtigen Tag, und indem ich die Erinnerungen zu rekonstruieren versuchte, zerfielen sie mir und ordneten sich neu. Nicht nur die Topographie der sogenannten ‚Heimat‘ geriet in Bewegung, sondern ebenso die Inhalte des Studiums, die ich nun selbst zu vermitteln versuchte im Literaturunterricht, und die ich mit der wachsenden Distanz anders betrachtete, anders bewertete, als ich es ohne den ‚polnischen Hintergrund‘ getan hätte […]“ Das betrifft z. B. Werke von Heinrich Böll und Günter Grass.

Die Kindheitserinnerungen sind hier für Quinkenstein immer auch ein Anlass, über den Heimat-Begriff nachzudenken. „Zur Wirklichkeit wurde mir die ‚Heimat‘ nicht durch die Suggestionen des ‚Dehemm‘, sondern durch die Erweiterung der Perspektive, die im vertrauten Bild die Brüche erscheinen ließ.“

Dabei reibt er sich an Ludwig Harig, den er mit dessen ironischen Ausführungen zur saarländischen Identität beim Wort nimmt.

Im Roman „Souterrain“ unternimmt Tobias einen Abstecher in seine Heimat um Illingen. Er stellt fest, dass die Erinnerungsorte aus seiner Kindheit so nicht mehr existieren. Er vergleicht das mit den Erfahrungen des saarländischen Schriftstellers Alfred Gulden, der, aus der Ferne zurückgekehrt, „schrieb, dass alles da sei, wo es für ihn hingehöre“. Aus einem Gedicht von Johannes Kühn zitiert Quinkenstein, dass „der Schaumberg, zu sanft geformt, nicht tauge für den alles negierenden Sturz in die Tiefe“. Und er denkt nach über das Schicksal von Gustav Regler, den es aus der „sogenannten Heimat“ fortgetrieben hatte.

Lothar Quinkensteins will an die erinnern, für die die vermeintliche Heimat problematisch geworden ist. In seine persönlichen Erinnerungen an „Schulweg und Jahreszeiten, Spiele und Namen“ mischt sich das Gedenken an Widerstandskämpfer und an die deportierten Juden aus Illingen.

Zu den Erinnerungen an die Kindheit im Saarland gehören auch die wiederholt erwähnten Sonntagsausflüge mit den Eltern nach Lothringen, bei denen der bildungsbeflissene Vater sich gern an Günter Metkens 1964 erschienenem Buch „Liebe zu Lothringen“ orientierte.

Ein von Quinkenstein immer wieder zitierter Mittler zwischen Polen und Lothringen ist Stanislaus Leszczinsky, geboren 1677 in Lemberg, kurzzeitiger König von Polen, dessen Tochter Maria ihm durch die Heirat mit dem französischen König Ludwig XV. die Herzogtümer Lothringen und Bar einbrachte; bevor seine sterblichen Überreste nach Krakau überführt wurde, ist Stanislaus in Nancy beigesetzt worden, wo ein Platz mit Denkmal nach ihm benannt ist: „Der pummelige Herr mit seinen runden Bäckchen, der auf dem Denkmalsockel die Hand erhebt, um über den nach ihm benannten Platz zu deuten, auf Stadt und Landstrich, die ihn in bester Erinnerung haben.“ („Souterrain“). Quinkenstein erwähnt auch, dass Anna, die jüngere Tochter Stanislaw Leszczinskis, im saarländischen Gräfinthal beerdigt ist.

Ein Anknüpfungspunkt an Saarbrücken sind die Erinnerungen von Schlomo Rülf, des letzten Rabbiners der Saarbrücker Gemeinde vor dem Zweiten Weltkrieg: „Beim Lesen seiner Erinnerungen flossen mir die Topographien zusammen, überblendeten sich […]“

Kindheit in Wustweiler

Neben den persönlichen Erinnerungsbruchstücken in fast allen seinen Büchern hat Lothar Quinkenstein auch zwei Bücher ausschließlich über seine Kindheit und Jugend im Saarland veröffentlicht. Die Erzählung „Wiesenzeit“ (Röhrig Verlag 2020) handelt von der Zeit in Wustweiler. Im Gegensatz zu den eher düster gestimmten anderen Werken ist die Stimmung hier hell und klar.

Dem aus Wustweiler stammenden Historiker Franz Josef Schäfer hat Quinkenstein erklärt: „Den Namen des Ortes habe ich im Buch bewusst nicht genannt, da ich die Erfahrungen / Erlebnisse nicht auf eine bestimmte Örtlichkeit festlegen wollte. Für den Ortskundigen ist Wustweiler natürlich leicht erkennbar, ich glaube aber, dass eine Kindheit auf dem Dorf – in diesen 1970er Jahren – viele universale Aspekte enthält, insofern wollte ich das ‚offen‘ halten.“ In einer Mail an LITERATURLAND SAAR (1.6.22) macht Quinkenstein zudem darauf aufmerksam, dass hier die Chronologie des Erzählten eine andere ist als die des Erlebten: „und in dieser Zusammenstellung wirken die einzelnen Szenen und Bilder als selbständige Erzählelemente, nicht mehr als Belege der ‚Wahrhaftigkeit‘ des Erlebten.“ Die Mutter, die in Wahrheit Ärztin war, ist in diesem Buch Übersetzerin. Es ist also Vorsicht geboten bei allzu direkten Rückschlüssen vom Erzählten auf die Realität.

Die Milieuschilderungen lesen sich auf jeden Fall sehr authentisch. Die Männer im Dorf sind Bergleute, die Woche über auf Schicht, die Mütter sind zu Hause. Erst am Samstag treten die Gestalten der Männer „in die Wirklichkeit“ ein, sie werkeln ums Haus rum und trinken dann gemeinsam ein Flaschenbier. ZITAT

Der Vater des Erzählers ist Arzt, er besitzt kein Werkzeug, trinkt nicht mit den anderen Männern Flaschenbier, niemand aus der Familie ist in einem Verein, im Zweifelsfall entscheidet man sich für die Anschaffung eines Klaviers statt eines neuen VW, für den Sohn sind Fernsehen und Comics verpönt. Umso attraktiver für ihn ist der Umgang mit Pitt, einem Jungen aus dem proletarischen Milieu, von dem er eine Menge übers wahre Leben lernen kann. Anfangs fremdelt er noch mit dem Dialekt, begreift nicht auf Anhieb, dass der Zuruf „Kummuffstelle!“ auf dem Schulhof bedeutet: „Komm, aufstellen!“ und dass „ich“ hier „eich“ heißt und dass man „dau“ für „du“ sagt.

Wesentlich bei „Wiesenzeit“ ist für den Autor, was er „die Parallelität, vielmehr die Verschlungenheit der Wahrnehmung“ nennt: „Da ist zum einen die Primärerfahrung, die – phasenweise – unter der Überschrift ‘Idyll’ gefasst werden könnte, aber ihr zur Seite steht die zweite (dritte, vierte …) Erfahrung – in den Sphären späterer Reflexion. Und diese Reflexion umgibt, je weiter sie fortschreitet, das Idyll mit den Fragezeichen eines Wissens, das zum Zeitpunkt der Primärerfahrung noch nicht vorhanden war.“ (Mail an Literaturland Saar vom 20.7.22).

Gymnasiast in Wemmetsweiler

Drei Jahre vor Erscheinen der „Wiesenzeit“ hat Lothar Quinkenstein einen „Bilderbogen“ aus der sich chronologisch daran anschließende Phase seines Lebens veröffentlicht. Die „Deckelmacher“, wie der Titel lautet, sind Leute, die vom Wirt ihren Alkoholumsatz auf dem Bierdeckel anschreiben lassen. Wenn man kurzschließt auf die Biografie des Autors, handelt es sich um die 80er Jahre im Merchweiler Ortsteil Wemmetsweiler. Wie in den Polen-Romanen ist auch hier der topographische Mittelpunkt des Geschehens eine Kneipe (nicht namentlich genannt: das „Funny ‘Ill“), Zu den Stammgästen gehören Musiker und Schüler des nahegelegenen Gymnasiums. Als es aufs Abitur zugeht, machen die Schüler sich Gedanken über ihr künftiges Leben, in dem sie nicht „dem System“ dienen wollen.

Damit es nicht zu heimelig wird, hat der Autor einen ironisch-distanzierenden Stil gewählt: „‘Ei, wer kummt dann do? Es Bobbesje…‘, grüßte ein langer Lulatsch einen Herrn in Sandalen und Seppelhose, und die Botschaft des kantablen Diminutivs, von Herzen kommend, zu Herzen gehend, der den Allerwertesten gleichsam bei Gegensinn des Urwortes nahm, um alle Despektierlichkeit zu tilgen, ja um in einem Atemzug Jahrhunderte abendländischen Schimpfens in hellste Humanität zu wenden – in dieser Abendbrise rührte sie zuinnerst.“

So wie Musik in Quinkensteins Literatur immer eine große Rolle spielt, so sind die „Deckelmacher“ dem Andenken des früh verstorbenen Illinger Schlagzeugers Jochen Krämers (1964–2009) gewidmet. (RP)