Als Natur – und Kulturlandschaft ist der Kreis Merzig-Wadern schon öfter beschrieben worden, als Literaturlandschaft bisher noch nicht. Einzelne Orte haben in Werken der Literatur Erwähnung gefunden, wenn auch nicht in denen eines Knigge oder Goethe. Aber wer würde vermuten, dass ausgerechnet Karl May (1842–1912) in seinem Roman-Vierteiler „Die Liebe des Ulanen“ 1883/1984 Weiskirchen, Mettlach und Merzig erwähnte? In den vier Folgen – „Der Weg nach Waterloo“, „Das Geheimnis des Marabut“, „Der Spion von Ortry“ und „Die Herren von Greifenklau“ – führt Karl May noch an viele andere Orte im deutsch-französischen Grenzgebiet zwischen Thionville, Koblenz und Merzig. Der Journalist Alfred Schön ist diesen Spuren in der „Saarbrücker Zeitung“ in den Jahren 1995 bis 2006 mehrmals nachgegangen.
Bevor aber Karl May mit dem Finger auf der Landkarte an Merzig und Mettlach hängen blieb, war Victor Hugo, der große französische Romancier und Dichter, schon da gewesen: In Merzig und an der Saarschleife bei Orscholz, heute Ortsteil von Mettlach. Im September 1863 prophezeit er der Merziger Kirche St. Peter angesichts ihres baulichen Zustands den baldigen Untergang, an der Saarschleife bewundert er die „gigantische 8“, die der Fluss hier in die Landschaft zeichnet.
Ernst Moritz Mungenast beschrieb 1957 mit der Blach, dem Schauplatz seiner saarländischen Familiensaga „Tanzplatz der Winde“, die Dörrmühle und die sie umgebende Landschaft bei Mechern, „vor den Brücken des Städtchens Merzig am linken, also am Fremersdorfer Ufer der blaugrün schillernden Saar“. Und dann, welche Überraschung, Günter Grass. 1946 verschlägt es den 18-jährigen nunmehr ehemaligen Soldaten der Waffen-SS, der gerade aus einem Kriegsgefangenenlanger entlassen worden ist, in den Hunsrück und in ein Reihenhaus „bei Merzig“. Was dort passierte, erzählt er sechzig Jahre später, nunmehr berühmter Schriftsteller, in seiner Autobiographie.
Seit dem Anschluss der „Kantone Merzig und Wadern“ an Preußen 1816 sind die Grenzen des Landkreises viermal geändert worden, zuletzt 1946 mit der Zusammenführung der zuvor getrennten Kreise Merzig und Wadern in einen gemeinsamen Kreis, und 1974 im Rahmen der saarländischen Gebiets- und Verwaltungsreform. Im Norden an Rheinland-Pfalz, im Westen an Luxemburg und Frankreich, im Süden an den Landkreis Saarlouis und im Osten an den Landkreis St. Wendel grenzend, umfasst er heute die Städte Merzig und Wadern und die Großgemeinden Perl, Mettlach, Beckingen, Losheim am See und Weiskirchen. Er erstreckt sich über rund 556 Quadratkilometer und ist damit der flächengrößte Landkreis im Saarland, mit 187 Einwohnern pro Quadratkilometer aber auch der am dünnsten besiedelte. Nur zehn Prozent der SaarländerInnen leben hier. Zu seinen frühesten Bewohnern zählen das Wollhaar-Nashorn und der Moschusochse, wie prähistorische Funde bei Merzig und Perl-Besch dokumentieren. Menschliche Überreste aus der Eiszeit fehlen: „Der ‚Neandertaler’ von Saar und Mosel ist bis heute nicht gefunden.“ – Die ältesten Zeugnisse menschlicher Existenz – geschliffene Beile – stammen aus der Jungsteinzeit. Und, ja, auch hier waren die Römer, wie eindrucksvolle Funde belegen, insbesondere der Mosaikfußboden der römischen Villa in Nennig oder die Wandbilder von Mechern.
Der Landkreis Merzig-Wadern ist überwiegend katholisch, der Dialekt ist das Moselfränkische. Seine Landschaft ist abwechslungsreich, vom Saargau im Westen bis zum Schwarzwälder Hochwald im Osten und dazwischen ein Hügelland von der Saar bis zur Prims. Der Kreis verfügt im Saarland noch heute über die größte Waldfläche. Jahrhunderte hindurch war seine Landschaft von Ackerbau und Viehzucht geprägt. Im Boom der Gründerjahre um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden Hunsrück und Hochwald zum Arbeitskräfte-Reservoir für die Gruben und Hütten des Saar-Reviers. Für die Leute unten in den Industriezentren waren sie „die aus dem Bollenland“. Zuerst bevölkerten sie die Schlafhäuser, später wurden sie von Bussen zur Arbeit und wieder nach Haus gefahren. In den 1950er und 1960er Jahren waren diese Busse mit den bleichen, übernächtigten Arbeitern aus dem Hochwald ein vertrauter Anblick in den Straßen des Saarlandes. Währenddessen blieb das „Bollenland“ für die Städter lange eine terra incognita; dort konnten nur finstere Dinge vor sich gehen; solche, wie sie der Nunkircher Walter Wolter in seinem Krimi-Erstling „Hundstage, Wolfsnächte“ dem fiktiven Hunsrück-Dorf Wulfsgruben zugeschrieben hat.
Die Land-und Forstwirtschaft ist noch immer ein bedeutender Wirtschaftszweig. Der Weinbau ist eine kleine Branche geblieben und dazu eine feine geworden; Kenner sind sich seit jeher sicher, dass der beste Saar-Wein an der Mosel wachse. Doch heute leben die Menschen im Kreis Merzig-Wadern überwiegend von der Arbeit im Dienstleistungssektor, in der Verwaltung und im produzierenden Gewerbe. Die bedeutendsten im Kreis ansässigen Unternehmen sind der Keramikhersteller Villeroy & Boch in Mettlach, der Arzneimittel-Importeur Kohlpharma in Merzig-Besseringen und der Saargummi-Konzern in Wadern-Büschfeld. Die Konzernzentrale von Villeroy & Boch residiert am Mettlacher Saar-Ufer in historischem Gemäuer: in der um 1727 von dem bedeutendsten Barockbaumeister des Kreises, Christian Kretzschmar (ca. 1700 – 1768) entworfenen Alten Abtei. In unmittelbarer Nachbarschaft des Barockgebäudes steht das nach dem keltischen Ringwall bei Otzenhausen älteste Bauwerk im Saarland überhaupt, der vor mehr als tausend Jahren erbaute Alte Turm.
In die einst bäuerlichen Dörfer zog, gemessen an den „Berger Hütten“, deren letzte Exemplare Matthias Enzweiler im Bild festhielt, Wohlstand ein. Die Misthaufen vor den Häusern verschwanden, es wurde asphaltiert, betoniert, abenteuerlich an- und umgebaut, worunter vor allem die rundbogigen Scheunentore der lothringischen Bauernhäuser zu leiden hatten, wenn quadratische Garagentore in sie hineingezwängt wurden. Aber so manches Dorf bemühte sich in den in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfolgreich, sein Gesicht wiederzufinden. Heitere Behaglichkeit kehrte ein – aber gleichzeitig verschwanden aus den Dörfern die Schulen, die Poststellen und die Einkaufsläden.
Viel Landschaft und wenig Menschen: Einst eine Garantie für Abgeschiedenheit und Rückständigkeit. Die Enge und Langeweile der Dörfer und Kleinstädte, die dickköpfige Strenge der Alteingesessenen, deren Ausgrenzung von allem, was nicht hineinzupassen schien oder sich nicht anpassen wollte, löste in so manchen jungen Leuten Fluchtreflexe aus. Andererseits bot und bietet zum Teil noch heute ein Netz von Vereinen die Möglichkeit zu kultureller Selbstverwirklichung. In eingeschränktem Radius, denn Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus den Dörfern in die Zentren, beziehungsweise von einem Zentrum quer durch die Fläche zum anderen, von Kino und Disco ganz zu schweigen, sind noch heute vielstündige Expeditionen. Nicht von ungefähr gibt es im Kreis Merzig-Wadern saarlandweit die meisten Pkw pro Kopf der Bevölkerung.
An Mobilitätsschübe zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert die Museumsbahn Losheim. Ein Relikt der 1903 gegründeten Merzig-Büschfelder Eisenbahn (MBE), auch „Kleinbahn, Klinsch“ oder „Feuriger Elias“ genannt. Literarisch verewigt finden wir die MBE in Werner Reinerts autobiographischem Roman „In diesem Land“ und in den Kriegskindheits-Erinnerungen von Edmund Hoff.
Die durch das Auto enorm gesteigerte Mobilität zog und zieht wiederum aus der vielen Landschaft einen hohen Freizeitwert. Zum Kreis Merzig-Wadern gehören heute einige der besonderen Touristenattraktionen des Saarlandes: die Cloef mit der Saarschleife, der Losheimer Stausee, der Archäologiepark Villa Borg in Perl, Schloss Dagstuhl in Wadern, der Zeltpalast am Merziger Yachthafen oder die Burg Montclair. Seit 1993 ist das restaurierte Gemäuer wieder für Publikum geöffnet. Um die von der Saarschleife umflossene Burg auf der Waldhöhe zwischen Mettlach und Dreisbach ranken sich zahllose Sagen und Legenden, die Matthias Enzweiler und Karl Conrath überliefert und weitergesponnen haben. Zur Wiedereröffnung 1993 schrieb und inszenierte Waltraud Riehm ihr Theaterstück „Der Tag der Schuldlosen oder Die Zärtlichkeit des Teufels“.
Als „Touristenattraktion“ nicht annähernd charakterisiert ist die Skulpturenstraße „Steine an der Grenze“ oben auf dem Saargau zwischen dem Perler Ortsteil Büschdorf und dem Merziger Stadtteil Büdingen – dort, wo Deutschland und Frankreich nicht mehr aufeinanderstoßen, sondern ineinander übergehen. Sie ist ein magischer Ort. Der im Merziger Stadtteil Bietzen lebende Bildhauer Paul Schneider hat sie 1986 ins Leben gerufen. Ein Teil der Strecke ist Jahre später zum „Gustav-Regler-Wanderweg“ ernannt worden, Reverenz an den noch immer bedeutendsten Merziger Schriftsteller.
Inwieweit der Kreis mit all seinen Besonderheiten zwangsläufig oder eher zufällig Dichter und Dichterinnen hervorgebracht hat oder hervorbringt, bleibt Spekulation. Dass von den mehr als 250 „saarländischen Lyrikerinnen der Gegenwart“, die Katja Leonhardt in ihrer Dissertation aufgetan hat, zehn aus dem Kreis Merzig-Wadern stammen oder hier leben, überrascht , wenn auch nicht so sehr wie die Zahl 250. Wo viel Landschaft ist, überreizt kein urbanes Chaos die Sinne, und der Mensch sieht sich mit sich selbst konfrontiert, unter dem weiten Himmel im Niemandsland auf dem Gau oder in den dunklen Tälern des Hochwaldes. Da können die Gedanken schon in die Tiefe gehen und die Fragen grundsätzlich werden.
Mit nicht wenigen Städten und Gemeinden des Kreises verbinden sich die Namen teils auch überregional bekannt gewordener Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Wenn wir die Karte des Landkreises Merzig –Wadern auffalten, können wir Fähnchen stecken: In Hilbringen (Stadtteil von Merzig) für Monica Streit, in Mettlach für Karl Conrath, in Saarhölzbach (Ortsteil von Mettlach) für Matthias Enzweiler, im Britten (Ortsteil von Losheim am See) und in Merzig für Maria Croon. In Rissenthal (Ortsteil von Losheim am See) für den Philosophen Peter Wust, in Losheim für Natalie Zimmermann, im Waderner Ortsteil Nunkirchen für Walter Wolter, im Beckinger Ortsteil Düppenweiler für die Dramatikerin Elfriede Müller, in Beckingen selbst für das Schriftsteller-Ehepaar Maria-Magdalena und Wolfgang Durben. Und schließlich in Merzig für Monika Zander-Philipp und Waltraud Riehm, für Gertrud Seehaus und, alle überragend, für Gustav Regler. Als Sammler von Sagen und Legenden aus dem Saar-Mosel-Raum ist der aus dem heutigen Mettlacher Stadtteil Nohn stammende Josef Ollinger hervorgetreten.
Etliche von ihnen wurden erst zu SchriftstellerInnen, nachdem sie ihren Ort und das Saarland verlassen hatten. War das Weggehen womöglich eine Voraussetzung dafür, es in der Literatur zu etwas zu bringen? Ein Verweis auf die im Kreis und im Saarland fehlende Verlagslandschaft beantwortet die Frage nur zum Teil. Als Kriterium des Erfolgs gilt hierzulande ja gerade die Publikation von AutorInnen durch überregional bekannte Verlage. Aber gedruckt wurden sie alle. So haben die Ergebnisse all ihrer Mühen gute Chancen, auch künftige Generationen von Festplatten, CD, USB-Sticks und Smartphones zu überdauern. Und sei es am Ende auch nur in einem einzigen, letzten Exemplar in einem Antiquariat oder einer von Schließung bedrohten öffentlichen Bibliothek.